Die Frau mit den struppigen Haaren - eine abfällige  
Liebesgeschichte 

Ich kann nur wiederholen, was ich schon gesagt habe: Ich wußte von nichts. All die Zeit, die sie hier gewohnt hat, hatte ich keine Ahnung davon, was hinter ihrer immer verschlossenen Tür vorging. Seltsam genug: So gut ich sie zu kennen glaubte, war ich doch nie in ihrer Wohnung.  

Ich traf sie an dem Tag, da sie hier einzog, unten vor dem Hauseingang. Sie stand davor und sah die Stiegen herauf zur Tür, in jeder Hand einen großen Koffer. Doch sie trug sie mit solcher Leichtigkeit die Treppen hinauf, als ob sie kein Gewicht hätten, als seien sie mit Luft gefüllt statt mit den schweren Dingen, die das Leben einem zu tragen gibt. Ihre dunklen Locken schienen nur widerwillig auf ihrem Kopf zu bleiben, wären wohl lieber hier- und dorthin geflogen, und in ihrer Kleinheit und Zerbrechlichkeit kam sie mir (wegen der Koffer?) sehr rätselhaft und riesengroß vor. Es war etwas - in ihren Augen? in der Art, wie sie die freie Hand zur Brust hochzog -, das mich unwillkürlich an einen dieser großen Vögel denken ließ, die in der Dämmerung am Stadtrand kreisen, um mit der Dunkelheit dann auf die Müllhalden herabzusinken, ständig auf der Suche, ständig auf der Flucht.  

Als sie an mir vorbeiging, sah sie mir in die Augen, und kurz, ganz kurz nur, formten ihre Lippen dieses verschwindend kleine Lächeln, das so kalt aussieht und doch eine eigenartige Welle von Wärme durch den Körper treibt.  

Ich weiß noch, daß an diesem Abend, als ich heimkehrte, vor meiner Tür ein zerbrochener Bilderrahmen lag, von der Art, die auf Schreibtischen die Gesichter derer rahmt, nach deren Nähe man sich gern sehnen würde. Ich weiß noch, daß ich ihn mit in die Wohnung nahm, wohl um ihn später fortzuwerfen, und auf den Garderobentisch stellte, fast so, als wäre noch ein Bild darin, und daß ich ihn dort vergaß. Er steht noch heute dort, und ich sehe keinen Weg, wie ich ihn fortbringen könnte.  

Es muß wenige Tage später gewesen sein, als ich die Hausbesorgerin im Treppenhaus einer Mieterin ihr Leid klagen hörte. Neuerdings, sagte sie, lägen jeden Morgen Abfallstücke verstreut im Garten, auch im Flur und im Keller habe sie schon welche gefunden, von zerrissenen Schachteln bis zu verfaultem Gemüse. Ob sich da jemand einen üblen Scherz erlaube? Sie müsse das schließlich alles wieder wegräumen. Oder ob ein streunender Köter in der Nähe seinen Unterschlupf habe und die Mülleimer durchwühle? Plötzlich verstummten die beiden Stimmen, und eine dritte sagte etwas, das ich nicht verstand. Die Hausbesorgerin murmelte gepreßt ein paar Worte zurück, dann war Stille. Jemand klopfte laut an meiner Tür. Etwas verlegen stand die neue Bewohnerin da und sah mich mit ihren großen dunklen Augen von unten an. Ein paar Schritte hinter ihr, am Treppengeländer, standen die beiden andern Frauen zu einem stummen Schauspiel erstarrt, das mir sehr eindücklich in Erinnerung ist. Die eine stand, die linke Hand aufs Geländer gestützt, die rechte mit einem farbigen Prospekt steil in die Höhe gereckt, mit grenzenlos erstaunten Augen da und sah mich entgeistert an. Die Empörung stand ihr groß ins Gesicht geschrieben, doch ihr Mund hatte wohl den Dienst versagt und war halb offen stehengeblieben. Darunter hing lustlos ihr sonst recht feistes Doppelkinn.  

Die Hausbesorgerin funkelte aus engstehenden Augen wütend in den Rücken des Mädchens vor mir (auf einmal kam sie mir sehr jung vor, wenn ihr Gesicht mir auch etwas anderes sagte) und klammerte eine Hand um den Besenstiel, die ohnehin schon schmalen Lippen zusammengepreßt. Ein eigenartig süßer, schwerer Duft hing draußen in der Luft, den ich noch nie zuvor bemerkt hatte.  

"Hast du Zucker?" fragte sie leise. "Ich habe keinen mehr."  

Ich hatte, und da ich sie nicht der geballten Ladung besenschwingender Empörung aussetzen wollte, ließ ich sie herein. Unmißverständliche Blicke aus zwei verbissen bösen Gesichtern drängten sich nach, als ich die Tür zuzog.  

"Was hast du ihnen gesagt?" wollte ich wissen. "Die sind ja völlig perplex."  

"Ach, nichts", sagte sie, und wieder traf mich der kleine lächelnde Blick. "Hast du auch Kaffee? Ja? In der Küche?" Sie ging voraus, als kenne sie sich aus, ich ging hintendrein und versuchte schon ihren Körper unter dem alten weiten Trainingsanzug zu erahnen.  

Wir saßen den genzen Nachmittag in der Küche, rauchten, tranken Kaffee, lachten viel und sprachen wenig. Es waren Stunden einer vorsichtigen Zärtlichkeit, die in meiner Erinnerung die Küche mit Sonnenlicht erfüllte.  

Als sie ging, mit Zucker und Kaffeevorräten für Wochen ausgestattet, blieb sie bei dem Garderobentisch stehen und zeigte auf den zerbrochenen Rahmen. "Was ist das?" Ich erzählte ihr die Geschichte und sagte, daß ich ihn bald fortwerfen wollte.  

"Behalte ihn doch." sagte sie leise, "Er ist zu traurig, um ihn einfach wegzuwerfen." Sie hob ihn auf. "Es sieht so aus, als ob jemand hinausgefallen wäre, so tief und so weit, daß ihn niemand mehr sehen kann. Dabei würde er gern zurückkommen, aber die Betrachter haben ihn schon aufgegeben. Nur der Rahmen wartet noch auf ihn, daß er zurückkommt an seinen Platz, und nur über diesen Rahmen kann er wieder zurück, der ihn einmal gehalten hat; nur wenn da einer den Rahmen anschaut und das Bild sieht, das nicht mehr dort istÉ" Da sah sie mich ganz seltsam an, und ich lüge nicht, wenn ich sage, daß mir dort mit einem Mal kalt wurde, eine Kälte ihre Hand auf meinen Arm legte, deren kein Sommer Herr werden könnte. "Würdest du einen solchen Rahmen fortwerfen?"  

Doch noch bevor ich antworten konnte, ja bevor ich überhaupt einen klaren Gedanken gefaßt hatte, hatte sie schon die Tür geöffnet und war hinausgeschlüpft. Dann sagte sie etwas wie "Du mußt das Lebendige in den Sachen sehen, auch wenn sie tot scheinen" und war verschwunden.  

Ich ging ihr nach, doch da war niemand mehr; nur dieser stechend süße Duft wie von überreifen Früchten hing noch im Flur und schien das Haus bis zum Dach mit einer dichten Wärme zu erfüllen. Ich schloß die Türe und ging zurück in die Küche. (Ob es so war oder ob mich die Erinnerung narrt, weiß ich nicht, doch:) Der Platz, an dem sie gesessen hatte, war übersät von unzähligen kleinen und kleinsten Schmutzteilchen: Zigarettenasche, Zucker, Kaffeeflecken, Schnipsel einer im Gespräch zerfransten Serviette, Milchtropfen. Heute verstehe ich, damals wischte ich stumm und mit dem unbestimmten Gefühl, Spuren zu tilgen, die ich hätte besser lesen sollen.  

Tage später erwachte ich von einem schrillen Gezeter im Treppenhaus: Die Hausbesorgerin war in hellem Aufruhr. Über Nacht hatte jemand vor jede Wohnungstür ein Stück Abfall gelegt, schön säuberlich ein Stück vor jede Tür: Einen toten Kanarienvogel für die ehemalige Hure, die jetzt Aufklärungskurse in Schulen gibt, einen erblindeten Spiegel für das ständig keifende Ehepaar vom zweiten Stock, einen erbärmlich anzusehenden Haufen zertrampelter verwelkter Blumen für mich, ein Sack abgenagter Hühnerknochen von einem Schnellimbiß für meinen fetten Nachbarn zu rechten, eine Vase ohne Boden für meine neue Nachbarin zur linken und so fort vier Stockwerke hinauf. Die Hausbesorgerin war außer sich. Die Polizei habe sie gerufen, in aller Frühe schon, aber auch die stünde vor einem Rätsel. Wie immer, wenn man sie brauche. Nur eins war sicher: einen Hund hatte der dabeigehabt. Ganz deutlich hatte sie die Spuren am Eingang gesehen, und vor den Türen der unteren Stöcke hatte man Haarbüschel gefunden, wie nur kranke Hunde sie verlieren, sie sei da sehr aufmerksam, das hatte der Kommissar ihr auch lobend gesagt. Und da im Haus niemand einen Hund halte - was ja auch verboten sei -, könnten die Spuren nur von dem nächtlichen Überfall stammen. Aber mit ihr könne man das nicht machen, mit ihr nicht. 

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              (Zuerst veröffentlicht in "Saiten", St.Galler Kulturmagazin) 
 

  
  
Wir standen alle im Flur und betrachteten einigermaßen erstaunt das Schauspiel auf der Treppe, das die Hausbesorgerin gab, dabei auf und ab steigend und mit dem Besen bald hier-, bald dorthin drohend. Da zupfte mich jemand am Ärmel. Ich drehte mich um und sah mitten hinein in diese dunklen rätselhaften Augen, die mir schon Wochen früher nicht zu den struppigen Haaren hatten passen wollen. "Ist dir aufgefallen", fragte sie, "daß jedes dieser eigenartigen Geschenke einen Bezug zu dem hat, der es bekommt? Was damit wohl gemeint ist?" Sie betrachtete die Vase in ihrer Hand, brachte sie schließlich wie ein Fernrohr vors Gesicht und zwinkerte mir durch das Loch zu. "Hast du noch Kaffe? Meiner ist. . ." "Schon gut; komm rein." 

Wieder tranken wir in der Küche, und bald schon stellte sich auch das Sonnenlicht wieder ein. Doch diesmal brachte es den Raum mit einem blutroten Ton zum Singen, so daß wir bald verstummten. War ich es, der aufstand und sie in die Stille hinein küßte, oder war sie es, die ihre Hand klein und warm auf die meine legte? Ich weiß es nicht mehr. Doch ich sehe noch den Bogen, der sich von ihrem Hals über den Bauch zu den Schenkeln spannte, sehe ihre Brüste, die sich zitternd am warmen Sonnenlicht rieben, seheauch noch den glänzend schwarzen Stoff sich über ihren Hintern spannen, als sie vor mir in die Dusche stieg. Ich sehe ihre geschlossenen Lider und höre ihren tiefen Atem, doch, was alles überlagert, ich rieche den Duft von großen fetten Blumen, der gebieterisch meine Nase besetzte, als nach dem ersten Kuß unsere Lippen voneinander ließen. 

Stunden später - es mochte gegen Abend gehen - sehe ich sie, ein seidig dunkel schimmerndes Relief auf den weißen Laken, wie sie den Kopf zu mir her hebt (und ihre Haare waren nicht mehr zerrauft als sonst), und ich höre sie fragen: "Sag, weißt du eigentlich, wer ich bin?" Mir fielen die zu leichten Koffer ein, Kaffee und Sonne und eine blitzgewitternde Reihe von Blicken, Berührungen, Umarmungen, die ich nicht alle mit ihr geteilt hatte. Ich schwieg. 

Da begann sie zu reden, erst fest und ruhig, dann immer leiser werdend, als entferne sie sich immer mehr; sie erzählte von sich, das weiß ich, erzählte von Prügel, Pflegeeltern und Waisenhaus, erzählte lang von einem stickigen Lokal, in dem sie vergebens auf einen gewartet hatte, der ihr viel bedeutet hatte; sie erzählte von der tastenden Hand auf dem schwellenden Bauch, und ich war so zufrieden und ruhig, strich ihr übers Haar, sie erzählte von der Kälte, in der man tödlicher brennt als im Feuer. Ich legte meine Hand auf ihre kühle Hüfte, räkelte mich an ihrer Schulter, sie erzählte von den Gesichtern der Menschen auf der Straße, von dicken Beamten und hageren Polizistinnen, von Vorladungen, Mahnungen, feindlichen Bürohäusern und neonhellen Korridoren, ich hielt sie im Arm, spürte kein Ziehen mehr zwischen den Schenkeln; ich erinnere mich noch, daß sie etwas sagte von Menschen, die immer fortgeworfen würden, ein Leben lang fortgeworfen, als seien sie überflüssig geworden mit dem Tag ihrer Geburt, dann erinnere ich mich nur mehr an eine große Wärme, in der ich versank und die alles in dunkle Brauntöne tauchte; ich muß eingeschlafen sein. 

Als ich erwachte, war sie fort, und quer über mein müdes Geschlecht lag eine kleine violette Blume aus dem welken Haufen vor meiner Tür. 

Ich sah sie danach lange nicht mehr - Tage, Wochen? -, jeder Versuch scheiterte im Flur vor ihrer stets verschlossenen Wohnung. 

Sie sagen mir, daß zu dieser Zeit die Sache im Krankenhaus angefangen hat - sie hatte dort eine kleine Anstellung gefunden. Ich stelle mir vor, wie sie durch die leeren Gänge geht, sehe ihren Schatten bei jeder Lampe aufs neue unter ihr hervorkriechen, ihr zerfließend voranschwimmen, sehe sie mit heiligem Ernst über den unruhigen Teppich schreiten, den er ihr auslegt, einem Ziel zu. Und irgendwann wird er stillgehalten haben, wird sich breit und endgültig vor die Kühlraumtür gelegt haben, hinter der die Körper derer, denen nicht mehr zu helfen gewesen war, zusammen mit denen warten, die keine Hilfe mehr gewollt hatten. Sie wird erst ihre Hände, dann die Stirn gegen den kalten Türstahl gepreßt haben, und vielleicht hat sie an mich gedacht, als sie den Hebel niederdrückte und zum ersten Mal den eisigen Luftzug auf der Haut ihres Armes spürte. 

Und, was keiner weiß, zur gleichen Zeit kam auch der Hund. Eines nachts, als ich heimkam, saß er vor meiner Tür und sah mich an, rührte sich nicht, als ich an ihm vorbeiwollte, sah mich nur an, und sein Blick, oder war es die Haltung seinen zerzausten Kopfes, erinnerte mich an etwas, das ich schon einmal gesehen hatte. Ich nahm ihn mit (er stank erbärmlich), und sofort suchte er sich einen Platz, als kenne er die Wohnung. In dieser Nacht habe ich das erste Mal von ihr geträumt, ein wirrer, schmerzlicher Traum. 

Der Hund ging am Morgen, und irgendetwas in mir zog sich zusammen, als ich ihm die Straße entlang nachsah, als wollte es ihn nicht gehen lassen; doch am Abend war er wieder da, so verdreckt und zerlumpt, daß ich ihn erst baden mußte, bevor ich ihn an seinen Schlafplatz ließ. 

Als ich sie das nächstmal traf, trug sie ein großes Paket die Stiege herauf, und diesmal muß es schwer gewesen sein, denn sie stöhnte, und auf ihrer Stirn stand Schweiß. Sie war so freundlich wie immer, gab mir auch einen Kuß über den Schachtelrand, aber nach wenigen Sätzen schon meinte sie, daß sie noch zu tun habe, und verschwand in ihrer Wohnung. Als ich wenig später bei ihr klopfte, antwortete mir nur mein eigenes Echo im Treppenhaus. An dem Abend bleib auch der Hund aus, und eine ungeheure Leere begann in meine Gedanken und meine Träume zu kriechen. Oft fuhr ich angststarr aus den schweißnassen Laken hoch. 

Am nächsten Morgen weckte uns die Hausbesorgerin mit Triumphgeschrei. Nachdem sie wochenlang nun auf der Lauer gelegen hatte, war ihr endlich der Täter in die Falle gegangen. Nun, nicht den Kerl, dafür aber seinen Hund hatte sie erwischt, wie er einen blutigen Klumpen Fleisch (ein eigentümlich kleines Schweineherz) ins Haus schleppen wollte. Mit dem Eisenrechen habe sie ihn quer über den Kopf erwischt, die Blutspur sei noch deutlich, die er auf der Flucht hinterlassen habe. Ich ging stumm in die Wohnung zurück und glaubte zu wissen. Ich weinte. 

Wenig später haben sie sie dann geholt - jemand in der Klinik hatte Alarm geschlagen, und man hatte den Kühlraum mit Überwachungskameras ausgestattet. Sie kamen am Morgen, grimmige Männer und Frauen, einige davon in weißen Kitteln. Ihre Wohnung, so sagen sie mir, soll völlig unmöbliert gewesen sein, und es muß ein entsetzlicher Gestank geherrscht haben. Der Boden in allen Zimmern war übersät mit Häufen von Abfall aller Art, und in der Küche lag ein menschlicher Körper, wie ein Puzzle zusammengesetzt aus unendlich vielen Leichenteilen in unterschiedlichen Stadien der Verwesung. Dazwischen habe man Büschel von Hundehaaren gefunden und, schön säuberlich gestapelt, volle Kaffeepackungen, das einzig Brauchbare in dem Horror. 

Ich ging zum Fenster und sah hinunter auf die wartenden Polizeiwagen. "Manche Menschen werden immer fortgeworfen, ein Leben lang", hatte sie gesagt, und da erst begann ich zu ahnen, welche Angst sie getrieben haben mußte, als sie mir die Hand gab; irgendwas in meiner Brust krampfte sich zusammen und ich spürte einen Eisklumpen wachsen. Als sie dann endlich aus dem Haus kam, auf beiden Seiten geführt von einem Polizisten, blickte sie zu meinem Fenster herauf, und mir war, als lächle sie noch einmal ihr kleines Lächeln, das soviel Wärme gab. Ich hob gerade die Hand, um ihr zu winken, als um ihren Kopf etwas Weißes aufblitzte, ein Verband, auf dem in einer schön geraden Reihe, wie mit dem Rechen gezogen, einzelne Blutflecken im Licht der Sonne strahlten. Ich fiel auf meinen Stuhl. 

Von seinem Platz unter dem Tisch sah mich der Hund an, und mit einemmal wußte ich, wo ich diese dunklen Augen und diesen struppigen Kopf schon gesehen hatte. 

Markus Wernig