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Regen 

Wieviele Worte, wieviele Eimer namenlosen Wassers in den breiten Strom gekippt! Tatsache ist, daß bald darauf der Regen anfing. Zuerst war es nichts Besonderes, ein Tag, zwei Tage, da die graue Watte nicht über unseren Köpfen abzog, schließlich, als es niemand mehr überraschte, doch noch platzte und was sie bisher verborgen gehalten hatte, auf die Erde ergoß. 

Regentage im Sommer sind hier nicht außergewöhnlich. Der große Fluß im Tal atmet Tag für Tag soviel Feuchtigkeit aus, daß die Luft sie in diesen windstillen Sommern unmöglich halten kann. Von Zeit zu Zeit erbricht sie sich über die Häuser und Menschen, die Kühe und Felder, aus denen es zu ihr empordampft. Meist dauert es nicht lange, wie gesagt, ein, zwei Tage, dann noch ein paar verhangene Himmel, bevor die feuchte Sonne wieder Mücken in den Pfützen züchtet, sie in immer größeren Schwärmen aus den Wiesen hochjagt und ein müder Luftzug sie in die Häuser, die Straßen treibt. 

Möglich ist auch, daß es sommers hier nie regnete, ich weiß es nicht mehr. 

Diesmal war jedenfalls alles anders. Schon die ersten Regentage zeichneten sich durch etwas aus, das ungewöhnlich war: durch ihre Gleichförmigkeit. Keine Schwankungen in der Regendichte, immer gleichbleibende Temperatur, kein Windstoß, der die Tropfen dramatisch gegen das Fenster gejagt hätte, nur dieses beständige Fließen wie aus Hähnen. Selbst das Licht schien sich, solange es da war, nicht zu verändern: Am Morgen lag es plötzlich ausgebreitet da hinter der Wolkendecke, genug, um zu zeigen, daß die Nacht vorbei war, zu wenig, um den Tag zu rechtfertigen, ein anhaltendes Dämmerlicht, das selbst die Straßenlaternen schluckte, die man nach ein paar Tagen dann einfach durchgehend brennen ließ. Am Abend hob es sich dann ohne Vorwarnung, dorthin wohl, wo die Dunkelheit herkommen mußte, und mit einem Schlag war es Nacht. Die Laternen konnten wieder damit beginnen, den Tanz der silbernen Nadeln unter sich zu beleuchten, die Pfützen spiegelten ihren Schein, und die Dinge krochen zu ihren Konturen zurück.  

Kommt es mir nur jetzt so vor, oder war es auch damals so? In meiner Erinnerung jedenfalls sahen wir damals bei Nacht klarer als bei Tag. 

Die Krägen hochgestellt, die Köpfe, je nach Vorliebe, mit Schirmen oder Hüten geschützt, bahnten wir uns Wege über Straßen und Plätze, als wolle uns jemand daran hindern, und ich kenne keinen, der sich nicht vom Regen bedroht gefühlt hätte, als die zweite Woche um war. 

Keiner außer einem, aber der war ja keiner von uns. 

Wer welche hatte, wickelte sich in dicke Mäntel und verkroch sich in sich selber, wer keine hatte, fror durchnäßt und wurde krank. Und es wurden viele krank, mehr, als man erwartet hätte. 

Wir verschanzten uns in unsern Häusern und überließen die Straßen dem Wasser, das sie mit gleichgültiger Beständigkeit überzog; erst hockten wir noch an den Fenstern, um zumindest das wenige Licht zu erhaschen, das noch draußen hing, und vielleicht mag der eine oder andere gehofft haben, ein Nachlassen des Regens festzustellen, wenn er nur lang genug hinausstarrte, irgendein Zeichen von Veränderung, das er dann als Hoffnung in die nächste Nacht hineinretten können würde. 

Doch der Regen ließ nicht nach, und mit der Zeit begannen wir die Fenster zu meiden. Lieber drängten wir uns um die Tische an den hinteren Wänden, und wo der Platz nicht reichte, wurden die Stühle und Bänke, auf denen man sonst gern die Aussicht, die Morgen- oder Abendsonne genossen hatte, von den Erkern und Fenstern weg nach und nach in die Mitte des Raumes oder ganz nach hinten geschoben. 

Gefängnisse die Häuser, in denen wir wohnten, Kerker mit Wächtern die, in denen wir zur Arbeit gingen. Erst jetzt, da nicht mehr ernsthaft daran zu denken war, das Gebäude zu verlassen, merkten wir, wie klein die Räume waren, wie klein der Teil der Welt war, in dem wir uns bewegten; die sich mochten, erfüllten sie mühelos mit einer sterilen, doch spürbaren Wärme, die sich vorher nur leicht unsympathisch gewesen waren, begannen sich abgrundtief zu hassen und Tag für Tag ein Stück mehr ineinander festzubeißen, schließlich sich zu zerfleischen. 

Möglich wäre es immerhin, wir haben uns genug Bestialisches bewahrt, um jederzeit aufeinander losgehen zu können. 
 

    Das R. erfüllt aber auch einen rein praktischen Zweck: Dort, wo es institutionalisiert wurde, seine festgelegten Formen als Bestandteile eines alltäglichen Ablaufs erscheinen, ein Zustand, den Beckham "the every-day journey of partitioned paths" nennt, schützt es die Teilnehmer (vermeintlich?) vor den Unwägbarkeiten, die dem Verhalten anderer zugrunde liegen oder ihm entspringen. Wo sie sich, sei es aus wirklichen oder scheinbaren Notwendigkeiten, auf ihr Gegenüber nicht soweit einlassen können, daß sie, im Bewußtsein eines "tieferen Gleichgewichts der Persönlichkeiten" (Wilhelm et al.), denjenigen Taten, Worten oder vermuteten Motiven, die sie als "fremd", als dem eigenen Kanon der Wertigkeiten und Erfahrungen nicht entsprechend empfinden, mit einer adäquaten emotionalen oder intellektuellen Entsprechung begegnen können, greifen die Anhänger des R. auf diejenigen Muster der Wahrnehmung und Kommunikation zurück, die ihrer jeweiligen Position im R. entsprechen würden. Anders gesagt initiieren sie an einem beliebigen Punkt des raum-zeitlichen Prozesses, da sie sich der als real empfundenen Struktur einer Situation nicht spontan gewachsen fühlen, ein R., dessen einziger Teilnehmer sie selbst sind; gleichzeitig verpflichten sie ihr Gegenüber, ohne sein Wissen, zu der entsprechenden Rolle (zur Motivation des Gegenübers in einem transzendierenden sozialen R. siehe v. a. Beckham). Nimmt dieses sie an, ergibt sich die (nach Becuse) so genannte "spontane Ritualisierung" einer interaktiven Situation, und das R. gilt als "vollendet" (Becuse). Nimmt es sie hingegen nicht an, oder wird sein Verhalten subjektiv als nicht mit dem neuen R. (das im Kontext des ersten steht, es aber durchdringt und daher nach Wernig transzendierend genannt wird) konform empfunden und bleibt der erste Teilnehmer in seiner Rolle isoliert, erfolgt von diesem eine emotional meist sehr heftige Reaktion, in der die gesamte Bandbreite derjenigen Sanktionen, die einen "abtrünnigen" Teilnehmer eines vollendeten R. treffen, sublimiert und als latente oder offene "Aggressio sine causa" (Beckham) kompensiert wird. 
     
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Ratten zerfleischen sich, beißen sich ineinander fest bis zum Verenden, unfähig, je wieder voneinander zu lassen, wenn sie in einem zu kleinen Raum zusammengesperrt werden. 

Es regnete also, unerwartet, pausenlos, ohne daß ein Ende absehbar gewesen wäre (ist es wahr, daßÊmanche schon zu vergessen begannen, wie es vorher gewesen war, daß es je nicht geregnet hatte?), und eine nasse kalte Unruhe ergriff uns. Alles war, wie es immer gewesen war, die Häuser, die Bäume, die Straßen, nur die Menschen waren verändert. Die Zäune in uns, an deren Verlauf wir uns ausgerichtet hatten bei unseren Wanderungen, denen unsere Träume und Gedanken gefolgt waren, ohne daß wir sie bemerkt hätten, waren durchlässig geworden; die Pfähle begannen sich im aufgeweichten Grund zu lösen, unterspült von dem unablässigen Regen, hier und dort lag schon ein Teil flach, andere neigten sich müde dem Sumpf zu, der sie nicht mehr halten konnte: keiner würde einem Andrang standhalten, wie leicht er auch ausfallen möchte. 

Urvölker, alte, versunkene Kultur: Afrika, Australien, Amerika - war das der Zeitpunkt, an dem der Hohepriester die Pyramide bestieg, da der Stammesschamane den Sonnentanz befahl, da alle den Sonnengott anflehen sollten, den Regendämon zu vertreiben; der Zeitpunkt, da die Zäune wieder festen Halt in trockenem Grund finden mußten, da sonst alles, Schamanen, Sippe, Büffel und Ahnenfriedhöfe, weggespült worden wäre von der großen Flut? Unruhe in den Hütten bei Morgengrauen, die Ältesten jeder Familie treten heraus in den Dämmer, kaum, daß sie einander sehen; niemand sonst darf sich zeigen. Sie versammlen sich bei der Hütte des Zauberers und gehen dann schweigend, ohne daß einer das Kommando gegeben hätte, los, hinaus aus dem Dorf, zur Ritualstätte; gebückte Schemen, die sich mit jedem Schritt ein Stück weiter aufzurichten scheinen, unerklärlich immer größer werden, je weiter sie sich von den Hütten entfernen, schließlich riesenhaft zwischen den Büschen schwanken, Schatten vor einem rötlichen Horizont werfen, bevor sie sich mit einem Mal in dem dunklen Streifen unter dem roten Schimmer verlieren, plötzlich wie aufgesaugt in ihm verschwinden. 

Wieviele Blicke die verhangene Straße hinunter in Erwartung eines, der kommt, um die Quelle dieses Wütens zu ergründen. 

Helena, die unerforschliche Helena, seit beinahe zehn Jahren dunkel und schön an meiner Seite, stand am Fenster. Sah sie hinaus? Wohl mag ihr Gesicht dem grauen Fließen draußen zugewandt gewesen sein,Êaber ihre Augen? Hingen sie nicht eher an dem schmalen Streifen zwischen den Wolken und den Hügeln und an dem, was irgenwo dahinter lag? Dem Meer? Mag sein. 

"Man müßte weggehen von hier, solange noch Zeit ist", sagte sie, zu sich? zu mir?, und holte ihren Blick wieder ein. 

"Der Regen?" Sie nickte. "Er wird nicht ewig dauern." 

"Wird nicht dauern", und sie sprach sehr leise, wie von weit weg, "aber bleiben." 

Ich verstand nicht, wie so oft, doch an ihre Rätselhaftigkeit hatte ich mich gewöhnt. Oder ich glaubte es zumindest. Jedenfalls sagte ich nichts mehr. 

Heute könnte ich sagen, daß sie vorausgesehen hatte, was passieren würde, wenn der Regen doch einmal aufhörte: daß nämlich diejenigen, die einmal die Enge ihrer Welt gespürt, die den Haß auf den Nächsten gekostet hatten, nicht mehr zurück können würden zu dem belanglosen Nebeneinander, in dem sie vorher gelebt hatten; daß, wenn auch scheinbar der Grund weggefallen sein mochte, die Menschen nicht aufhören würden, in Kerkern zu leben; daß die Zäune an ihren Pfosten weiter schwach und brüchig hängen würden, morsche Relikte einer scheinbar glücklicheren, versunkenen Zeit. 

War es das, was sie meinte, der Regen wird nicht dauern, aber bleiben? Ich nehme es an, wenigstens das, doch eigentlich frage ich mich, ob es von Bedeutung wäre, wenn sie etwas anderes gemeint hätte. Sie könnte es auch gemeint haben, es gedacht, ohne ein Wort zu sagen dort an ihrem Fenster (und sie war eine der wenigen, die noch, wie zu Beginn, lange dort standen und hinaussahen). Es wäre nicht von Belang und bemerkenswert nur insofern, als ich dann nicht wissen könnte, was sie gemeint hat. Aber ehrlich gesagt, bin ich mir dessen auch so nicht sicher. 

Nein, wahrscheinlicher ist,.daß sie etwas sagte, es ist mehr ihre Art, etwas zu sagen, und wenn ich unsicher bin, so ist es mehr meine Art, der Erinnerung zu mißtrauen, fernes Abbild eines irgendwann flüchtig erhaschten Blicks. 

Also ein Alter allein in einem Universum auf der Gartenmauer, Helden, ungezählte Helden, und ein Regen, der jeder Sicherheit nach und nach, Tag für Tag, den Boden entzog. 

In der Nacht drängte sich ihr warmer Körper unruhig an meinen, doch sobald ich eine Bewegung machte, um ihr unter der schweren Decke zu begegnen, zog sie sich zurück, wurde still und hart. 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

 
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