5 
Fisch 

Stell dir vor, es gab ein Land, darin ein Tal, darin eine Stadt, in der es zu regnen anfing und nicht mehr aufhörte. Wer die Stadt verließ, in irgendeiner Richtung, konnte bald bemerken, wie der Regen, je weiter er selbst sich entfernte, schwächer wurde, schließlich aufhörte. In den rundum den Fluß entlang verstreuten Dörfern schien in jenem Sommer nämlich ständig die Sonne, sie schien sogar so ungeheuer beständig und brennend, daß die Bauern dort Angst um ihre Ernten hatten, da der Boden schon früh rissig wurde, und die Kühe auf den Weiden aus rot entzündeten verquollenen Augen auf dieses unbegreifliche bösartige Feuer dort oben glotzten, das ihnen das Maul vertrocknen und die Haut auf dem Rücken fast platzen ließ mit seiner Hitze. Ein dumpfes Röhren drang aus den Ställen, ein dumpfes Stöhnen aus den Betten, wenn der heiße Wind den Staub in Wolken von der Straße riß und durch die Fenster, durch die Türen drückte, noch mehr Staub in die engen muffigen Zimmer, der zwischen den Zähnen knirschte, die Nasen und Münder verklebte, die Alten in der Nacht hustend mit schmerzenden Lungen aus den schweißnassen Laken hochfahren ließ. Angstvoll aufgerissene Augen, die in die dicke trockene Luft der geschlossenen Nacht starrten und nach dem Grund solcher Qualen suchten... 

Ich verließ die Stadt im Regen nie zu dieser Zeit, wie so viele andere auch hatte ich aufgehört, hinter seinen feuchten Grenzen noch irgendetwas zu vermuten. Und was von draußen hereinkam zu uns, war nicht wirklich, kaum mehr wahrnehmbar, und nur an das, was sich dem Regen unterordnete, was in sein Licht, seine Geräusche, seine Kälte paßte, konnten wir uns Augenblicke später noch wenigstens ansatzweise erinnern. 

Also kann ich es nicht selbst gesehen haben, das verdörrende gequälte Land, und was als Bild so klar vor mir steht, muß mir auch jemand erzählt haben: daß er eines Tages, kurz bevor die große Hitze anfing, an einem lauen Abend auf dem Heimweg an einer Gartenmauer vorbeikam, hinter der ein alter Mann im Gras lag; daß sie kurz sprachen und er weiterging, verfolgt und eingeholt von einer Unruhe, die ihn nicht mehr verließ, sondern später, als die Hitze länger und länger dauerte, immer stärker wurde... Irgendwo mußte ihm die Unruhe sehr zugesetzt haben, vielleicht ließ sie ihn am Morgen zu früh erwachen und sich hin und her wälzen, bis seine Arbeit ihm den Vorwand lieferte aufzustehen und sie nicht mehr zu spüren. Vielleicht fürchtete er die Zeiten des Tages, da er plötzlich nichts mehr zu tun haben würde und wieder, mit dem ersten oder zweiten Gedanken, der ihm kam, sobald er stillstand, von ihr gepackt werden würde. Vielleicht graute ihm vor dem Abend, da er sein Werkzeug aus der Hand legte und langsam, Schritt für Schritt, alle Sicherheit, alle Verbindlichkeit, alles, was eben noch starr, aber eben doch beruhigend festgelegt gewesen war, in den Schränken und Schubladen verschwand: allein blieb er in einer dunklen weiten Ebene zurück - "dein Leben, Mensch", flüsterte eine Stimme von irgendwo her in die Stille -, in der er einmal hierhin, einmal dorthin losgehen konnte, ohne je irgendwo anzukommen, vermutlich; denn er wußte nicht, wohin er wollte, und nicht, woran er erkennen würde, wenn er dort angekommen wäre. Diese Nacht mit ihren weichen schwarzen Augen, die ihn ansahen, als kennten sie ihn, blieb ihm doch fremd. Jeder Schritt ein Irrlicht oder eine Erleuchtung - er konnte sie nicht mehr unterscheiden. 

Vielleicht war das alles so, jedenfalls machte der mir das erzählt haben muß, einen elenden Eindruck: wirres Haar, wirre Augen, der Blick, der eben noch versuchte, einen Gegenstand, ein Gesicht festzuhalten, reißt sich schon wieder los, irrt suchend umher und fällt schließlich zu Boden, wo er neben den anderen seufzend im Staub liegenbleibt. Die Hände versuchen, bald hektisch, bald ermattet, seinem Weg noch zu folgen, nur um immer wieder an der selben Stelle auf dem Tisch zu landen: zu groß geratene Vögel, die auf dem Weg ins Winterquartier ihren Schwarm verloren haben und jetzt unverrichteter Dinge wieder zurückkehren; voll dunkler Ahnung, was sie hier in Winter und Eis erwartet, flattern sie auf, lassen sich wieder nieder, fliegen noch einmal, landen wieder, picken ein paar dürre Halme aus der Erde - und spüren doch, wie vergeblich ihre Flügelschläge sind: den großen Zug erreichen sie nicht mehr. "Dein Leben, Mensch", sagt er noch leise zur Tischplatte vor sich hin, bevor er aufsteht und mühselig aus meinem Blickfeld verschwindet - als hätte er die große Anstrengung nur unternommen, um mir die schlechte Nachricht zu überbringen, und sei jetzt müde und ergeben genug, um hinzunehmen, was denn komme: ein Bad, ein Messer, eine lange Stunde - was auch immer. 

Doch keine Hände erwarten ihn, die immer schneller werdend den Schmerz wegreiben, der ihn verbrennt, keine Hände, die ihm den letzten großen Schmerz bringen, der alle anderen, die vorher in ihm waren, ausbrennt. Er fließt einfach zurück in das, was sie eben sein Leben nennen ohne ihn gefragt zu haben, und wenn er sich dann manchmal nach Händen sehnt, die wirklich etwas tun, wird er sich vielleicht umsehen, nach den anderen sehen, von denen sie ihm gesagt haben, daß sie seine Brüder sind, und er wird sie durch ihre Tage gehen sehen, wird sie ihre Hände bewegen sehen, das tun sehen, was sie Tag für Tag tun - hämmern, sägen, schlagen, ausschlagen, wegstoßen, schneiden, zerreißen, wegwerfen. Er wird sie ihre Münder bewegen sehen, und die Worte, die er hören wird, werden stumm an seinen Ohren vorbeiziehen. Ob sie je wissen werden, was das für Felder sind, die sie da bestellen? Ob sie ahnen, daß die Denkmäler, die sie jeden Tag setzen, Denkmäler der Vergänglichkeit sind, ebenso verloren in einer verlassenen Landschaft wie sie selbst, wenn der Schwarm einmal nach Süden aufgebrochen ist? Kein Flügelschlag, kein Blick bringt mehr den Augenblick zurück, den sie für wirklich hielten, als sie ihn mit mit den Werkzeugen ihrer Leiber, ihrer Hirne in die Zeit zu hämmern, zu bohren meinten. 

Er geht, und er nimmt all seine Fragen mit, als hätte es sie nie gegeben, doch die sich unendlich in einem Kreis drehenden Antworten läßt er mir auf dem Tisch zurück. Und während der Regen draußen sein unheimliches Spiel fortsetzt, regen sie sich unruhig auf der Suche nach den Fragen, denen sie ihr Dasein verdanken. Doch bald wird auch sie das Geräusch der fallenden Tropfen auf dem Dach, am Fenster betäubt haben, und sie werden zahm in eine Ecke zu den anderen kriechen, die der letzte hier fallengelassen hatte. 

Er ist schon lange fort - wer? - und ich frage mich, ob er jemals da war, als der Regen fiel und nicht mehr aufhörte, als die Sonne brannte und die Felder verdorrten, als wir alle aufhörten, wirklich zu sein, und uns nur mehr in mühsam aufrechterhaltenen Gebärden zu beweisen versuchten, daß es uns noch gab. Was er wohl von mir gedacht haben mag auf seinem ziellosen Weg durch sein dunkles weites Feld, als ich ihm zuhörte und hie und da ein Kopfnicken, ein rasches Wort anbrachte? Als ich hören wollte, daß nach dem Regen wohl alles besser werden würde und man nur lange genug aushalten müßte? Ob er gelächelt hat mit seinen wirren Augen, die nicht stehenbleiben konnten, ob er das Wasser, das unermeßliche Wasser gesehen hat, das noch vor uns lag, das in uns lauerte? Bald darauf war er jedenfalls gegangen mit all seinen Fragen und seinen Vogelhänden, und wenn ich ihn später noch einmal sah, habe ich ihn nicht mehr erkannt oder es vergessen. 

Stell dir vor, sage ich, und stelle mir vor, daß er nicht der einzige war, daß viele, vielleicht alle sich als Fremde durch ihre eigenen Tage und Nächte schlichen, stets in der Furcht, dabei hinter einer dunklen, unbeschreiblichen Masse - ein Felsen? ein Tier? - plötzlich auf das stille Feld zu stoßen, auf dem kein Blick einen Weg verrät - zu schweigen davon, ob es der richtige ist - dein Leben, Mensch, doch die Stimme klingt bedrohlich, und mit einem Schlag ist alles nichtig, was bisher Halt und Sicherheit versprach, mit einem Schlag ist es nur mehr das weite Feld in seiner beängstigenden Grenzenlosigkeit, das zählt. 

Vielleicht können nur die wenigsten mit dieser Angst leben, und irgendwo, tief unter der Hülle, in der sie sich verkrochen haben, mit der sie über die Erde kriechen, wünschen sie sich, daß sie tot wären, um sie nicht mehr spüren zu müssen, die Angst. Ganz still und klein liegt der Wunsch in ihnen, versteckt, und nur wenn sie in diesen langen ruhigen Stunden, da sie unruhig werden, da nichts mehr sie ablenkt, vorsichtig, beinahe gegen ihren Willen, anfangen, die Länder ihres Bewußtseins abzutasten, die sie sonst lieber vergäßen, bemerken sie ihn, einen kleinen harten Knoten unter der Haut eingenistet, fühlbar, doch nicht sichtbar unter der anscheinend glatten Oberfläche. 

Oh doch, ich glaube, sie waren auch glücklich. Sie waren sogar sehr glücklich - denn sie wollten es sein. Und so ließen sie das Tasten bleiben und hielten sich mehr an das, was ihre Augen und Ohren ihnen sagten. Oder sie waren es trotzdem: ich weiß es nicht mehr. 

Ich weiß nur, daß eines Tages, als es wieder einmal so aussah, als würde das Licht, das irgendwie doch durch die Wolken kam, ein ganz klein wenig heller zwischen den Regentropfen leuchten als sonst, daß an einem dieser Tage der Alte an meine Tür klopfte. 

Ich weiß nicht, wie er mich gefunden hatte. Wenn er mir gefolgt war, an einem der Tage, nachdem ich ihn bei der Gartenmauer stehengelassen hatte, vielleicht schon damals, mußte er katzenhaft geschickt sein, denn ich hatte ihn nie gesehen. War er hinter meinem Rücken um die Ecke gehuscht, Schatten zwischen den Schatten der Häuser, heimliches Rascheln hinter den Blättern der Hecke? Wozu? 

"Wer ist es?", hörte ich Helena rufen, ich sah ihn an, er sah mich an (eine Frage in seinem Blick?), und ich konnte nichts anderes antworten als "Ich habe keine blasse Ahnung." Da nickte er und lächelte.  

"Ich sehe, es tut sich etwas." 

"Was soll sich tun?"  

"Nun, das war doch die ehrlichste Antwort, die Sie geben konnten" - er strahlte mich an, und bevor ich noch etwas sagte, war er schon an mir vorbei in den Vorraum gehuscht. Genau besehen hätte ich auch nichts zu sagen gewußt, so daß es keine große Rolle spielte, ob er hereinkam, bevor oder nachdem ich es nicht gesagt hatte. Als er dann drinnen war, raunte er mir noch zu "... ehrlich nicht nur deshalb, weil Sie meinen Namen nicht kennen, ganz im Gegenteil - Sie verstehen...?" 

Ich verstand gar nichts, und ehrlich gesagt wollte ich auch gar nichts verstehen. Die Situation begann mich zu stören. Was wollte er von mir? Wozu hatte er mich ausfindig gemacht, wozu drängte er sich in meine Wohnung? Ob ich ihn hinauswerfen sollte? Ich fragte mich - doch ich wollte es mich nicht fragen müssen, und deshalb wollte ich auch die Antwort nicht kennen. Ich wollte mich gar nicht mit ihm beschäftigen.  

Aber da war er im Vorzimmer zu meiner Wohnung, schon fast im Gang, grinste mich an - und ich hatte keine Ahnung, was ich mit ihm tun sollte. Also blieb ich da in der offenen Tür stehen und tat etwas, das ich schon einmal getan hatte: ich starrte ihn an. Ganz kurz kam mir der Gedanke, ein kleiner Funke Hoffnung, daß er gar nicht da war, daß ihn nur ein verirrter Flußlauf hier abgeladen hatte und ihn wohl gleich wieder fortspülen würde - und ich suchte den Raum nach Zeichen dafür ab, daß ich ihn mir nur einbildete - ein Flackern des Lichts vielleicht oder eine Spur dieser eigentümlich schweren Atmosphäre, die oft in Träumen herrscht: schließlich war das viel wahrscheinlicher. Doch er blieb, wo er war, und so schloß ich die Tür. 

Helena kam aus dem Zimmer, angelockt durch mein Schweigen, Helena, meine gute Helena, sie rettete mich. Vielleicht wäre ich dort bis zur Ohnmacht stehengeblieben, wäre einfach aus der Zeit herausgefallen, hätte vergessen, den nächsten Augenblick zu erleben, und wäre für immer an diesem Regennachmittag in dem kleinen halbdunklen Vorraum gestanden, und niemand hätte mich mehr gesehen, da sie alle schon einen oder mehrere Augenblicke weiter gewesen wären; es brauchte so wenig, nur einen winzigen Taktschlag Zeit, den man versäumte, und schon verschwanden die Leute, die man eben noch gesehen hatte, auf Nimmerwiedersehen in der Zukunft. Ich glaube, Einstein hat das für möglich gehalten... vielleicht hätte ich mich einfach in meine eigene Gegenwart aufgelöst, wenn sie nicht aus ihrem Zimmer gekommen wäre und mit all ihrem Süden, all der Sonne und beharrlichen Freundlichkeit ihrer Jugendzeit gefragt hätte: "Ach ja, Herr-ich-habe-keine-blasse-Ahnung! Wir haben schon auf Sie gewartet. Kommen Sie!" Mit einem Schwung drehte sie sich um - und ich sehe noch das eigenartig triumphierende Blitzen in ihren Augen, als sie mich mit einer Hand streifte. 

"Kommen Sie! Nehmen Sie einen Kaffee - ich hoffe, Sie mögen italienischen, denn anderen kann ich nicht." 

Er nahm, und wie er nahm. Ich sehe seine kleine hagere Gestalt an unserem Küchentisch, er kauert vorgebeugt an der Tischkante, und seine Hände beherrschen leicht die Fläche vor ihm. Jetzt erst fielen mir seine riesigen stechenden Augen auf: glühendes Gestein, das über alles wegfloß und sich festbrannte, erkaltete, um sich dann wieder zurückzuziehen. Sah ich am Tag danach Brandspuren in der Tischplatte? 

Er nahm einen Kaffe, ja, dann noch einen, ja bitte, sehr gern, dann noch einen, schwarz und heiß stürzte er ihn in sich hinein, ohne abzusetzen, und während erst Helena, dann ich Kaffee kochten, begann er das Brot zu essen, das auf dem Tisch in einem Korb lag.  

Er lobte den Kaffee, lobte das Brot. 

Und als ich ihn fragte, ob er mit uns essen wollte - warum? Warum bloß fragte ich; wo mir doch gar nicht danach war... aber ich hatte Hunger -, da wollte er natürlich, aber nur, wenn er vorher noch einen Cognac bekäme. Vielleicht lüge ich wieder, doch mir will das Bild nicht aus den Augen gehen, wie er dasaß, trank und aß, immer mehr trank und immer mehr aß und dabei unablässig alles um sich her beobachtete. Wie er langsam den Tisch, die Küche nur durch seine Anwesenheit, seine aufmerksamen Blicke, eroberte, ohne auch nur ein einziges Mal die Augen zu schließen, ohne auch nur einmal zu zwinkern. Diese furchtbaren Augen schienen alles zu sehen - nicht nur, was offensichtlich, was "wirklich" war. Ich kämpfte gegen das Gefühl, er könnte wirklich alles sehen, könnte in uns hineinschauen, und kein Gefühl, keine Regung, kein Manöver bliebe ihm verborgen, wie sorgsam wir sie auch verstecken mochten. Irgendetwas an ihm, vielleicht seine eindringlichen Augen, vielleicht das leise Lächeln um seine Lippen, wenn ich, wenn sie etwas sagte, das nicht ganz wahr war... ich weiß es nicht. Schon als ich ihn das erste Mal gesehen hatte, hatte ich den Eindruck gehabt, daß da etwas Seltsames an ihm war, irgend etwas, das mir so völlig fremd war, daß ich nicht sagen konnte, was es war, etwas, das nichtvon hier zu sein schien. 

Und jetzt hatte er unsere Küche besetzt, erobert, wie Tyrannen abtrünnige Länder besetzen ließen, bewaffnet nur mit seinem verwirrten, verwirrenden hintergründigen Lächeln und einem scheinbar unstillbaren Hunger. 

"Seht ihr", höre ich ihn sagen, während er sich einen weiteren Teller vollschöpfte, "die Wirklichkeit ist eine Hure. Sie zeigt jedem ihr lächelndes Gesicht, läßt einen jeden mit ihr machen, was er will. Sie erfüllt seine Wünsche: bei ihr darf er endlich ´wirklich er´ sein. Und sobald er dann seine Schuldigkeit erfüllt hat, sobald er seinen Augenblick gelebt und dafür mit seiner Zeit bezahlt hat, befriedigt, seiner selbst sicher, weitergeht, streicht sie böse grinsend seinen Lohn zu dem der anderen und ist wieder, was sie immer ist: unendlich viel größer und weiter, mit unendlich viel mehr Gesichtern, als sich das der arme Freierstropf jemals vorstellen können wird." Seine Hand fuhr durch die Luft, seine Augen funkelten: Feuer und Stahl... Ich sah zu Helena hinüber: ihr zurückgebogener Kopf verriet Unruhe. "Bis der nächste kommt. Wenn der nächste klopft, dann setzt sie wieder die Maske der Träume auf, die er zu träumen sich nicht gestatten will... da die Träume ihm zu schwach sind; er braucht Stärkeres. Und ein jeder darf auf ihr träumen, sie zu besitzen, darf träumen, daß ihr Gesicht wirklich ihr Gesicht ist, das ist ihr Vertrag - solange er nur seinen Teil entrichtet, solange er nur genau die Zeit seines Lebens, da er seinem Traum nachhängt, bei ihr auf dem Tischchen liegenläßt. Blatt für Blatt reißt sie vom Kalender ihrer Kunden, und Blatt für Blatt darf er sich als ihr Meister fühlen, darf ihr Gewalt antun und glauben, daß er dabei in ihr wahres Gesicht schaut. Dann kann er hingehen und erzählen ´Ich habe der Wirklichkeit in die Augen geschaut, ich weiß, wie sie aussieht.´ So ist das." 
 
 
 
nach oben
 

  
  
  
  

Helena sah mich fragend an. 

Sein Glas leerte er in einem Zug und noch während er genüßlich stöhnte und sich die Lippen leckte, griff er wieder zur Flasche, um sich vollzuschenken. Eine hatte er jetzt bereits getrunken, einen schweren Aglianico, doch nichts in seiner Rede oder in seinen Gesten ließ auch nur die leiseste Unsicherheit ahnen. Er mag nach einer zweiten Flasche gefragt haben. 

"Und für jeden Freier stellt sie ein eigenes Universum dar, in dem er leben darf...", mit einem Mal hielt er still und sah mich voll an, "und jetzt verstehst du vielleicht besser, was ich vor ein paar Wochen gesagt habe, ja?" 

Verstand ich? Ich kann es nicht mehr sagen. 

"Und du", fragte ich stattdessen, denn spätestens seit dem zweiten Espresso duzten wir uns, "zahlst du auch für ihre Dienste? Oder läßt sie dich umsonst, oder billiger...?" Da grinste er wieder. 

"Ach weißt du, ich bin zu alt für solche Abenteuer. Zu alt und zu arm." Er sah mir immer noch in die Augen, doch seine Hand tastete schon wieder nach dem Brot, fand den Topf, in dem noch gebratene Fische und Kartoffeln lagen, und zog ihn zu sich herüber. "Ich kann es mir einfach nicht leisten, ihr meine Zeit zu überlassen. Ist es hier, wo ich sitze, so, ist es dort drüben anders, ja?" Er kaute. "Blendet mich hier die Sonne, mag ein anderer dort drüben über die Dunkelheit klagen, und doch sitzen wir im gleichen Raum - oder meinen wir es nur? Sitzt er in dem einen, ich in einem anderen?" Dabei mag er die Küche mit dem Blick vermessen, dunkle gegen helle Stellen abgewogen haben, als suchte er den anderen; gerade so, als müßte er wirklich überlegen, ob er selbst hier war. 

"Nein, nein: es ist schon derselbe Raum, der uns hält, und nehmen wir einmal an, aus irgendeinem Grund müßten wir zu ihm Stellung beziehen, müßten miteinander in Kontakt treten und uns über die Wirklichkeit unterhalten, in diesem Fall über das Zimmer und das Licht. Und stellt euch vor, er zahlt seinen Teil und meint damit die Wirklichkeit zu besitzen, und ich zahle meinen. Wir werden uns angeregt darüber unterhalten, ob wir die Fensterläden schließen oder im Gegenteil noch eine Lampe einschalten sollen. Er will seine Augen schonen, ich die meinen, und was das Dumme daran ist: Wir haben beide recht und nicht den Funken einer Chance, es nicht zu haben, und dem andern zuzustimmen." Dann trank er wieder und blickte vergnügt in die Runde. Der Topf war fast leer. 

"Und das nennt sich dann ´die gesellschaftliche Realität´: Geblendete und Schattenwesen, die sich gegenseitig für die schlechte Sicht verantwortlich machen." 

Ob er meinte, etwas sehr Wichtiges gesagt zu haben? Jedenfalls lehnte er sich zurück (nicht ohne vorher nachzuschenken) und machte ein grunzendes Geräusch, das Befriedigung ausdrücken mochte. Ich weiß noch, daß ich ihn fragen wollte, warum sie denn nicht die Plätze tauschten, es dann aber bleiben ließ (Ja doch, er hatte sehr gut erzählt: die plötzliche Stille war enttäuschend). Bestimmt hätte er auch darauf eine Antwort gewußt. Oder genauer gesagt: ich kannte die Antwort schon, und es lag mir nicht allzuviel daran, ihm einen Anlaß zum weiteren Reden zu geben. Wenn auch mein Respekt von der ersten Begegnung verblaßt war, blieb doch eine kleine nagende Beunruhigung. Was sollte das ganze? Was wollte er von mir? 

Warum sie nicht die Plätze tauschten? Er hätte wohl etwas gesagt in der Art von: Wer übersiedelt denn schon um der Erkenntnis willen? oder Wozu? Ich liebe die Sonne und er den Schatten; nur das meine Sonne zu hell und sein Schatten zu dunkel ist. Im Zwielicht wären wir beide unzufriedener. 

Ich beschloß, daß er ein alter versponnener Penner war, der für ein Essen (und was für eins!) den ganzen Tag reden würde, einer von den vergessenen Künstlern, denen die Worte nie ausgingen, da niemand sie hören wollte. Wenn da nur nicht dieses verdammte Gefühl gewesen wäre, daß er alles, aber auch alles sah, mochte er es auch nicht sagen und hinter einer Handbewegung verstecken. 

Er wirkte mit einem Mal sehr alt. 

Die Blicke, die er zuerst Helena, dann mir, dann wieder Helena zuwarf, hatten nichts mehr von ihrer sprühenden Kraft. Er sah verstohlen zum Herd hinüber, schluckte ein paarmal leer (mir fielen erst jetzt die tiefen losen Falten an seinem Hals auf) und sah dann wieder zu Helena hin. Etwas Bittendes lag in seinem Blick, Ich glaube, er wollte Kaffee, aber aus irgendeinem Grund schämte er sich plötzlich, danach zu fragen. Er sagte nichts. Eine Weile sah er noch auf den Tisch, zupfte an der Serviette, an seinem Hemd. Dann, plötzlich, als hätte er von hinten einen Schlag erhalten, sackte sein Kopf nach vorn und sein Kinn fiel auf die Brust. Mit diesem Ruck setzte sich sein Oberkörper langsam in Bewegung, begann sich zurückzuneigen, bis er an der Lehne anstieß. So blieb er dann sitzen und rührte sich nicht mehr. Ich muß erschrocken sein. 

"He! Was ist los mit dir?" Ich wollte ihn schon an der Schulter fassen, doch bevor ich mich ganz über den Tisch gebeugt hatte, fing Helena meine ausgestreckte Hand ab. Sie legte einen Finger an den Mund und machte eine Kopfbewegung zu ihm hin, ihre Augen weit geöffnet, und da hörte ich es: ein regelmäßig an- und abschwellendes Knurren, ein merkwürdig vertrautes Geräusch, das an Stille gemahnte und an warme sichere Nächte - er schnarchte. Seine Hände lagen neben ihm auf der Bank, seine Schultern vornübergebeugt schlief er, und ich mußte an das Kind denken, von dem Helena und ich bis vor einiger Zeit oft gesprochen hatten. Ob es auch so dasitzen würde, wenn seine junge frische Kraft, die sonst alle unter ihren Bann zwang, plötzlich in sich zusammenfiel, ihrer selbst noch unsicher? 

Sie zog mich hinaus in den Gang. Nebel zog langsam an uns vorbei, blaues Licht des Sommers, und eine frische Kühle kroch in unsere Kleider. Die Luft roch leicht verbrannt, rauchig. Kobolde und Elfen tanzten um die Lampe, glitzernd und schillernd, wo das Licht sie traf, von innen heraus leuchtend, wo sie im Schatten schwebten. Als sie sich aufgelöst hatten, platzte Helena heraus. 

"Hast du es bemerkt?" Ich hatte nicht. 

"Es hat aufgehört zu regnen! Seit er da ist, hat der Regen aufgehört!" Ich lauschte, und tatsächlich war das Glucksen draußen, das beständige Klopfen auf dem Dach verstummt. Statt dessen war etwas zu hören, das das Rauschen von Wind hätte sein können, wäre es nicht so gleichförmig gewesen, so ohne Änderung in der Lautstärke oder der Tonlage. Ich lief zur Türe, riß sie auf: Draußen empfing mich völlige Stille, nichts, kein Wind, kein Regen, war zu hören. Nur die Nacht hockte breitbeinig vor der Tür und grinste mich an. Hinter ihrem Rücken, dort, wo man nicht an ihr vorbeisah, lag ausgebreitet eine dunkle weite Ebene, die ich noch nie gesehen hatte, die mir aber merkwürdig vertraut vorkam. Ich lief ein paar Schritte hinaus, merkwürdig weich federte der Boden unter meinen Schritten. Große weiße Vögel zogen langsam vor dem schwarzen Himmel ihre Bahn, wo eigentlich die Häuser hätten stehen müssen, die immer dort standen. Vielleicht wunderte ich mich noch darüber, daß die Stadt verschwunden war. vielleicht auch nicht; im schwachen Schein des Lichts, das aus unserer Tür fiel, erkannte ich gerade noch die Umrisse eines Weges, der unmittelbar vor mir begann und geradewegs in das Feld hineinführte, doch die Dunkelheit schluckte ihn dort, wo eben noch der erste Ansatz zu einer Wendung sichtbar wurde. In diesem Augenblick traf mich der Regen mit voller Wucht ins Gesicht. Ich fuhr herum, versuchte mich mit erhobenem Arm zu schützen und während ich schon völlig durchnäßt die paar Schritte zum Haus zurückrannte, hatte ich das eigenartige Gefühl, irgendetwas hinter meinem Rücken wollte mich bestrafen - bestrafen dafür, daß ich war, wer ich war, und für etwas, das ich getan hatte, ohne es zu wissen. Vielleicht dafür, daß ich im falschen Momenthinausgelaufen war, etwas gesehen hatte, dasich nicht hätte sehen sollen. Mein Rücken und meine Schultern spannten sich in Erwartung eines Angriffs, einer Hand, die aus dem Regen nach mir greifen würde. Ich duckte mich und sprang in die helle Fläche, die die Tür sein mußte. Ich warf sie hinter mir ins Schloß, lief weiter zum Fenster und starrte hinaus. Nichts. Nur der Regen, der im Licht der Laternen und erleuchteten Fenster bald nach unten, bald nach oben zu fallen schien... und etwas wie ein enttäuschtes Schulterzucken, das noch eine Weile ums Haus schlich, vielleicht auf eine neue Gelegenheit wartete... dann war es plötzlich weg. 

Ich hörte Schritte hinter mir, und im nächsten Augenblick stülpte jemand einen dunklen weichen Stoff über meinen Kopf. 

"Wieso hast du so geschrien?" fragte Helena und hängte das Handtuch zu meinen nassen Kleidern auf die Heizung. 

"Hast du Angst?" Ihr Blick traf mich noch vor der Verachtung, die er hätte vor sich her tragen sollen. 

Ich nickte wohl. Irgendwie hatte ich gute Lust, ihr zu erklären, warum ich so erschrocken war - trotz aller Fremdheit, die sich bei uns in den stillen Augenblicken zwischen zwei anderen Tätigkeiten oder zwei Fetzen eines Gesprächs eingeschlichen hatte - aber wußte ich es denn selbst? Ich konnte nur von dem Gefühl berichten, das mich begleitet hatte, seit ich ein Kind gewesen war, und mich jedesmal befiel, wenn ich eine große offene Fläche in meinem Rücken hatte, besonders wenn noch Dunkelheit und Schatten darin lagen, und von dem Gefühl, daß ich diese Leere dann füllen müßte... mit mir selbst; daß ich diesen Raum erfüllen müßte, daß da aber irgendetwas Großes war, das eben das verhindern und mich für dieses mein Gefühl bestrafen wollte - wohl um mich abzuhalten. 

Hätte ich ihr das erzählen sollen? Stimmte es überhaupt? Ich war überzeugt, sie hätte sich gelangweilt, und ihr Gesicht, ihre großen runden Augen hätten diesen wächsernen Ausdruck angenommen, den ich haßte, weil er ihre Schönheit betrog. Dieses bleiche fahle Licht wäre wieder auf sie gefallen, das ihre Haut so dünn machte und ihre vollen roten Lippen ihrer Farbe beraubte... 

Halt! Nicht so...! Und doch auch nicht anders. 

Das Gefühl, daß da draußen etwas gewesen war, immer da war, auf mich wartete - Angst vor der Dunkelheit? Vielleicht. - dieses Gefühl blieb; zusammen mit der vagen und beunruhigenden Sicherheit, daß ich hinter dem Rücken der Nacht, wo nie jemand hinkam, eine Stimme gehört hatte, die, kurz bevor der Regen mich traf, meinen Namen rief: etwas Unbekanntes, das auf mich wartete, schon lange auf mich gewartet hatte, etwas, das - wenn ich es einmal entdeckt hätte - keine Rückkehr mehr gestatten würde. Ein Gedanke kam mir in den Sinn, drei Worte, von denen ich nicht wußte, wo ich sie gehört hatte, und die irgendwie der Unsicherheit ein - wenn auch verschwommenes - Gesicht zu geben schienen: "dein Leben, Mensch"; und ich hörte mich sagen: "Ich glaube, ich habe Angst im Dunkeln", und sie lacht kurz und machte dann ein Gesicht wie jemand, der ein kleines Kind trösten will. 

Draußen tobte der Regen gegen die Fenster wie selten zuvor. Drinnen schnarchte der Alte, und ein Schwindelgefühl begann ganz langsam sich in meinem Kopf zu drehen; ein schweres, gut geöltes Getriebe setzte sich lautlos in Bewegung, und alles, die vergangenen Tage und Wochen in ihrer scheinbaren Ereignislosigkeit, das Licht der Lampen, der Regen, dieser ewige Regen, der wie eine Strafe über die Stadt gekommen war, die schmerzliche Unerreichbarkeit von Helenas Schönheit, die Beklommenheit der schweigenden Abende, der unheimliche, wahrscheinlich wahnsinnige Alte, sein Fressen und sein Schnarchen, das Universum, in dem er zu herrschen meinte, verwob sich in einem dicken weichen Schleier, der an mir vorbeizog, wechselnde Bilder, die sich immer schneller folgten, werderkehrten, in anderer Reihenfolge schließlich zu verschwimmen begannen, Farbstreifen, die ihre Spuren durch meine Augen zogen, bis nur mehr ein dumpfer Druck in mir war, der hierhin und dorthin gleichzeitig, in alle Richtungen zentrifugal ausbrechen wollte. Vielleicht habe ich noch etwas gemurmelt von "plötzlich müde", wenn ich auch nicht müde war, und war dann, auf die eine, auf die andere Wand zustolpernd, ins Schlafzimmer gewankt, mit beiden Händen an einem Schrank, einer Vase, der Tür schließlich Halt suchend. 

Dann nichts mehr. 

Als ich am nächsten Tag erwachte, frierend zwischen nassen Laken, den Mund verklebt mit einem bitteren Schleim, lagen Felsbrocken auf meiner Brust. Ich schlug die Augen auf und sah gerade noch jemanden - eine Frau? - um die Ecke aus der Zimmertür verschwinden, kurz genug, um nicht dagewesen zu sein, doch zu lang, um nicht zu bleiben. 

Ich wollte rufen und blieb still. 

Ich wollte ruhig bleiben und begann zu stöhnen, 

Ich wollte mich räuspern und mir wurde übel. 

Ich wollte mich übergeben und übergab mich auf die Decke, den Boden, meine Kleider vor dem Bett. 

Ich lebte noch, das war so sicher, wie es eben sein konnte, aber sonst? Wo war Helena? War sie schon aufgestanden oder noch nicht im Bett? War der Alte noch da? Hatte ich ihn verschlafen? Mir fiel auf, daß ich seinen Namen nicht kannte: Gut, er hatte keinen, es war eine Maske weniger, die er mit sich herumtragen mußte. Oder er hatte einen und sagte ihn keinem, Egal - eine Maske weniger auch das: Ich mußte ein Tuch finden, aufwischen. Mit schmerzenden Gliedern drehte ich mich aus dem Bett und begann zuerst das Zimmer, dann die Wohnung nach brauchbarem Putzzeug abzusuchen. 

Der Alte war weg (warum dachte ich: "natürlich"?) und die Küche ein Schlachtfeld, Töpfe, Pfannen und Teller stapelten sich überall, leere Flaschen lagen unter dem Tisch, und ich konnte mich nicht erinnern, daß wir so viel getrunken hatten. Ein Zimmer, einen Gang weiter fiel mir dann auf, daß Helena auch nicht mehr da war. Wann war das letzte Mal gewesen, daß ich aufgestanden war und sie war nicht dagewesen? Als sie ihren Vetter in Palermo besuchen gegangen war (È mio cugino, capisci, non mio fratello!)? Diesmal hatte sie nichts gesagt. Sie hätte, wenn sie länger weggeblieben wäre, also würde sie bald wieder kommen. Vielleicht brachte sie den Alten zum Zug oder sonstwohin, vielleicht vergrub sie ihn gerade in dem Wald nicht weit weg; die roten Blumen auf ihem schwarzen Sommerkleid verräterische Blutflecken in der erdigen Dunkelheit. 

Wer hatte wirklich so viel getrunken? Ob er noch einmal aufgewacht war? In der Schüssel auf dem Tisch lag noch ein halber Fisch: er stank erbärmlich. Der Geruch stach heftig in meine Nase, und ein plötzliches Ziehen und Drücken in meinem Magen, ein Würgen in meinem Hals gaben mir eine unvermittelte Ahnung davon, woher meine Übelkeit rühren mochte. Ich warf ihn weg, zusammen mit den anderen Essensresten, und dann, als ich das Geschirr in der Spüle stapelte, fiel mir ein, daß ich noch im Schlafzimmer putzen mußte. Der Fischgeruch dort war inzwischen sauer und feucht und unerträglich drückend, Ich öffnete das Fenster, und während der Regen in einem leichten orangen Schleier über die Häuser zog, machte ich mich an die Arbeit. Hätte ich besser auf das eigenartige Spiel des Lichts geachtet, hätte ich vielleicht zwischen den Fäden des Schleiers, hinter seiner zarten Oberfläche, ein sehr bekanntes Gesicht entdeckt. Vielleicht. 
 

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
nächstes Kapitel
 
zum Anfang
 
Inhaltsverzeichnis