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Ach, Helena... 

Es mag in dieser Nacht gewesen sein, daß ich sie zum ersten mal singen hörte. Der Regen trommelte in meinem Schlaf, nicht draußen, fern und abgeschirmt, sondern drinnen, in dem warmen finsteren Moor, in das ich gesunken war, muß ich seine beständigen Schläge gehört haben: ein Brausen, ein Schlag, dem kleinere hinterherstolperten und sich verhaspelten, als könnten ihre kurzen Beine den schnellen Takt nicht mehr halten; schon scheint es, als blieben sie stehen, ermüdet, als seien sie entschlossen, diesen letzten Marschbefehl nicht mehr zu befolgen, schon hört man die vereinzelten hohlen Gluckser, mit denen die Bäume und Dachbalken ihre Last seufzend abwerfen - dann findet sich an einer Stelle der trostlosen Kompanie der Tritt wieder, andere nehmen ihn auf, dann alle, sie kommen in einem anschwellenden Rauschen zusammen, bis dann wirklich alle einen Schritt genau gleichzeitig tun: ein Schlag. Doch der nächste kommt nicht mehr, wie betäubt von dem einen zögern sie beim Weitergehen, nur der Punkt, an dem der Tritt folgen sollte, ihr Einsatz, bleibt schmerzlich genau in ihren Ohren stehen. So versuchen sie, stolpernd den nächsten zu erreichen, jeder für sich, und alles löst sich wieder in ein diffuses Getrippel auf. 

Und irgendwo dort, zwischen diesem an- und abschwellenden Rauschen, müssen sie ihren Gesang begonnen haben. Zuerst waren da nur ein paar tiefere Töne, Bruchteile von Pausen, durch die dunklere Klänge kamen: die tiefen Stimmen. Alte, geborstene Männer, die sich so wenig von dem verschwommenen Murmeln im Hintergrund abhoben, daß sie kaum zu hören waren. †ber allen das Trommeln. Dann, als sie schon wieder begannen, im Rauschen unterzugehen, plötzlich ein hoher langgezogener Schrei, dann noch einer, und mit einem Mal schwollen die tiefen Baßstimmen zu einem bedrohlichen Grollen an, dunkle Vorboten eines Gewitters, von dem hinter dem Horizont noch nicht abzusehen war, wie groß es sein würde. Aus den ersten schwarzen Wolken schoß ein erster, noch fehlgeleiteter Blitz, wieder ein spitzer Schrei, aber diesmal vielstimmig klar und heiser, gefolgt von vielen kleinen erregten Messerstichen, die durch den ewig rauschenden Vorhang zuckten, aufspritzende Funken in der Nacht zwischen fetten nassen Blättern, wo sie trafen. 

Und so weiter. 

Ich hörte das teuflische Konzert noch so deutlich, als ich erwachte, daß das erste, was ich tat, war, zum Fenster zu gehen, um zu sehen, ob nicht draußen im Garten ein unheimlicher Chor Aufstellung genommen hatte; in schwarzen langen Kleidern die Frauen mit ihren gequälten hoffnungslosen Stimmen, schwerer schwarzer Stoff, der naß keine Falten mehr über die zitternde blaße Haut ihrer Glieder warf und nur mehr traurig an den harten Beinen klebte. Schwer der dampfende Stoff der Anzüge um die Schultern der Männer gespannt, die ihre bösartigen Bässe unter scheuernden Hemdkrägen aus geschwollenen Hälsen preßten, während das Wasser Furchen in ihre Haare zog und sich dann daraus in die hingebungsvoll geöffneten Münder ergoß. †berhaupt die Haare: fädige dünne Leichenhaare klebten an den gut zwanzig Schädeln, die ich nach dem nächtlichen Vortrag geschätzt hatte, zwanzig angestrengt gerötete Gesichter, die voll Inbrunst gegen meine jungfräuliche Hauswand angesungen hatten und jetzt unter sich immer weiter lichtenden Haarsträhnen auf die Wirkung ihrer Erregung warteten, leicht außer Atem. Einer, der der Chorleiter sein mußte, ein riesenhafter alter Mann mit unendlich zarten Gesichtszügen, gab ein Zeichen, eine geheimnisvolle Bewegung der Hand, kurz bevor ich ans Fenster trat, und die ganze gespenstische Gesellschaft löste sich in nichts auf. Nur ein leiser heimlicher Ton (wie von einer Stimmgabel, die ausklang?) hing noch in der Luft, als ich schließlich den Vorhang beiseiteschob und hinaussah: der Garten lag unverändert, leer. 

Ich war überrascht festzustellen, daß es unerheblich war, daß der Unterschied, ob oder ob nicht jemand draußen stand, keinen Unterschied bei mir herinnen machte. Das Bild war davon unberührt geblieben, nichts hatte sich an dem Licht geändert, das es beleuchtet hatte, nichts an dem Reflex in meinem Auge; sein belustigtes Zucken nahm auch die ewig gleiche regenverhangene Leinwand draußen hin. 

Ach, die Bilder! Strömende, lebendige, pulsierende Augenblicke, die nie irgendwo stattfanden und doch lange danach noch alle Blicke mit ihren Farben, Szenen, Stimmungen gefangen hielten. Unerheblich nicht nur, ob sie einer äußeren, echteren Welt entsprachen, unerheblich auch, ob sie blieben oder sich auflösten, veränderten. Die reine Empfindung eines Augenblicks, zu einem lebendigen, fleischigen Bild verwachsen, Stimmen, die fremd und vertraut zugleich irgendwoher von Geheimnissen sprechen, wo ich keine vermutete, und den Schleier von uralten Gräbern heben, die ich nur als unbeteiligte geheimnislose Stücke Boden ansah. Gewaltige unterirdische Bauten tun sich vor diesen Stimmen auf, Höhlensysteme komplexer Verschachtelungen, die ein staubiges blaues Licht von weit hinten erfüllt, und bringen von oben scheinbar belanglose Hügelkuppen - darunter dampferfüllte Pagoden, vor Urzeiten in den Fels gehauen - und überwachsene, unsichtbare Krater miteinander in Verbindung. Die Gänge scheinen unbehaust, lange schon verlassen. Doch wer hat diese kolossalen Bauten angelegt, und wozu? Warum hat er sie dem Spiel der Zeit überlassen? 

Dann verstummen sie wieder, und eine gnädigere Landschaft deckt alles wieder zu. Bald schon bevölkert sie sich, eifrige, unbeteiligte Gestalten nehmen von ihr Besitz, Gestalten aus Fleisch und Blut, die Leben, echtes, greifbares Leben spielen - und doch: so aus der Ferne betrachtet, vor dem Hintergrund dieser Hügel, deren Inneres ihnen verborgen bleibt, wirken sie jetzt nur mehr wie hingestellt, ausgeliehen - schöne Figuren, mit denen ein mittelmäßiger Puppenspieler ein mittelmäßiges Stück vorführt, überzeugt davon, seinem Publikum das Leben zu zeigen, überzeugt davon, überhaupt ein Publikum zu haben, das ihm heimlich zusieht. 

Egal. 

Der Regen deckte auch ihn zu, seine einsame Gestalt, über sein imaginäres Theater gebeugt, entfernte er sich immer mehr, als rollte er auf Schienen davon, löste er sich langsam zwischen den feinen Wasserstrichen auf, jeder Tropfen löschte ein Stück mehr aus dem Bild, bis er ganz verschwunden war und die plätschernde Stille ihren Platz wieder erobert hatte. 

Wieviele Blicke diese lange, verhangene Straße hinunter, die sich irgendwo verlor... war der Punkt, bis zu dem ich noch klar sah, nicht nähergekommen seit gestern? Hatte ich da nicht noch die Fenster dieses Hauses dort scharf und deutlich gesehen, die jetzt nur mehr dunkle Schatten auf einem irgendwie helleren Grund waren? Ich hatte das Gefühl, als gebe es da irgendwo in dem gleichförmigen Strömen eine Stelle, die dichter war, undurchdringlicher als der Rest - das Herz der Dunkelheit, fiel mir ein, und ich versuchte es wieder loszuwerden -, eine Stelle, die das Licht und damit alle Blicke verweigerte. Und ich hatte das Gefühl, daß es näherkam, unmerklich, sich heranschob, unaufhaltsam... 

Ich nahm mir vor, mir das Bild einzuprägen, mir zu merken, bis wohin ich klare Konturen erkannte, bis wohin meine Sicherheit reichte. Ich nahm mir vor zu sehen. 
 

    Sollen nun die verschiedenen Formen des R., von der individuellen bis zur sozialen Ausprägung, auf eine empirisch erfaßbare Gleichmäßigkeit hin beschrieben werden, so stechen einige Merkmale besonders ins Auge. Zum einen ist dies die allen Formen gemeinsame Funktionalisierung der Wahrnehmung. Die Teilnehmer des R. begreifen in einem Akt der Spontandefinition sowohl sich als auch ihre nähere Umgebung als unverrückbare, nowendige Bestandteile eines - wohin und von wem auch immer - gerichteten, richtungsgebundenen Prozesses, der in seiner Gesamtheit als realer empfunden wird als seine einzelnen Teile. Selbsterklärung, wie sie als Grundlage bewußter gerichteter Vorgänge geläufig ist, findet hier ausschließlich im kontextualen Bereich statt. Wahrnehmung wird somit zur Kontrollfunktion der eigenen Position in diesem Kontext. Wird nun etwas wahrgenommen, das a priori relevant für den einzelnen ist, unterliegt diese Wahrnehmung sowohl subjektiv als auch objektiv (beim sozialen R.) dem Zwang, im kontextualen Rahmen des R. verstanden zu werden. Dies bedeutet in letzter Konsequenz, daß jede Wahrnehmung auf ihre Rolle im R. hin überprüft und schließlich so interpretiert bzw. funktionalisiert wird, daß sie nicht im Widerspruch zu seinen Bedingungen steht. Als hervorstechendes Beispiel (unter vielen) seien hier die Opferrituale der Serengeti-Urvölker genannt. Kommt ein Außenstehender, nicht zum Stamm Gehörender während der Zeremonie an die Stätte des R., unterbrechen die Teilnehmer spontan und versuchen des Eindringlings habhaft zu werden, um ihn dann mit bloßen Händen zu erschlagen. Sein - objektiv - rein zufälliges Auftreten wird von den Teilnehmern nur im Zusammenhang mit dem R. gesehen - ein Kontext, der, seinen eigenen Regeln gemäß angewandt, den Zufall ausschließt - und somit zu einem Bestandteil, vielleicht einer Spielart desselben, auf die dann wiederum nur mit einer weiteren, festgelegten Funktion innerhalb des Ablaufs reagiert werden kann. Die Zuordnung von Bedeutung an äußere Ereignisse (sekundäre Wahrnehmung) erfolgt also streng nach Kriterien, die der eigenen, subjektiven Realität - in diesem Fall dem R. - entspringen, und wird somit, wie alle anderen im R. festgelegten Abläufe, zu einer seiner Funktionen. 
Ich nahm mir also vor zu sehen. Aber was gab es zu sehen? Was war es, das ich bisher nicht bemerkt hatte, was hatte sich so gut verborgen, daß ich es nur spürte, hier und dort meinte, es beinahe, aber eben gerade nicht gesehen zu haben? Irgend etwas entzog sich mir, irgend etwas, das von Bedeutung war, etwas, das bestimmte, was wie geschah - das Herz der Dunkelheit, fiel mir wieder ein, das geheime Herz der Dinge, das ihnen seinen heimlichen Rhythmus lieh, ein leichtes, zerbrechliches Pochen unter der scheinbar harten Oberfläche, das erst dann sichtbar - nein, fühlbar! - wurde, wenn nichts anderes mehr Bedeutung hatte, in den kleinen, unscheinbaren Augenblicken, da ich in mich selbst zurückfiel - irgend etwas war da, das unbemerkt von allen ein Gewicht hatte, das durch seine Größe alle andern beeinflußte... 

Ich sah hinaus, und wieder hatte ich das Gefühl, doch die Augen betrogen das Gefühl, daß dort irgendwo das Grau ein wenig dichter war, daß an einer bestimmten Stelle die Lichtreflexe, die der irgendwo aufgehenden Sonne entspringen mußten, weniger glitzerten. Noch war es nicht nähergekommen, nein, noch nicht, noch sah ich die drei riesigen Tannen am anderen Ende der Wiese einigermaßen klar, ich sah, wo ihre Spitzen in den Himmel griffen, und ich sah, wo die Schatten unter ihnen zu einer großen dunklen …ffnung zusammenwuchsen: ein breites gedrungenes Tor in eine Halbschattenwelt, über dem sich drei Pagodenbögen wölbten, schmucklos, nur durch ihre irre Höhe und die auseinander- und zusammenlaufenden Zacken gezeichnet. 
 

    Ein weiteres, allen Formen des R. eignendes Merkmal ist das - bei aller scheinbaren Anfälligkeit auf Störungen - durchwegs feststellbare Selbstbeharrungsvermögen im R. (Becuse nennt dies Renitenz, doch hat der Terminus aufgrund seiner Implikationen bei anderen Forschern, besonders Berger und Wilhelm, eine derart heftige Ablehnung erfahren, daß er nicht als gesichert gelten kann. Die Diskussion darüber dauert noch an.) Gemeint ist die Tatsache, daß ein Teilnehmer, wenn das R. erst einmal initialisiert ist, danach trachten wird, eine Conversion zu erreichen - unabhängig davon, ob dies innerhalb der ursprünglichen Form des R. geschieht, ob eine modifizierte, verschärfte Variante angewandt wird oder gar ein spontanes, sog. sekundäres R. initialisiert wird. Der ursprünglich aus dem US-amerikanischen Football-Sport stammende Begriff Conversion, "Umwandlung", bezeichnet dabei im weiteren Sinn das Ziel jedes R., die Erreichung und Vollendung der letzten festgelegten Stufe (eine Handlung, ein Wort wie beim Verbalritual etc.), und, damit untrennbar verbunden, jenen "Zustand danach" (Beckham), in dem die Vollendung bereits stattgefunden hat und der Teilnehmer von den Erfordernissen des R. entbunden ist, ohne jedoch bereits bewußt ausgeschieden zu sein - die Valutationsphase, da festgestellt wird, ob das R. sein Ziel, seinen Zweck erreicht hat. Physiologische Untersuchungen haben gezeigt, daß sowohl Muskeltonus, Irisreflex und Atmung als auch Blutdruck, Puls und Hormonwerte starke €hnlichkeiten mit jenen haben, die unmittelbar nach dem Eintreten des sexuellen Höhepunkts bei höheren Vertebraten vorherrschen. Die Selbstbeharrung zeigt sich nun im beständigen Streben der Teilnehmer nach einer C. Da diese aber nur über die Vollendung eines R. erreicht wird, mündet das Streben unweigerlich in dem Versuch, ein R. zu vollenden und, wo es unterbrochen wurde, ein neues zu initialisieren - beliebig, welches! Dieser Umstand beleuchtet übrigens exemplarisch die abstrakte Natur jeder Art von R., die es der Anlaß- und somit der Zweckbindung enthebt, ausgenommen eben jener, die eine C. zum Ziel hat. So kann ein Beziehungs-R., wenn ein Partner es mit einer neuen Wendung unterbricht (z. B. eine neue, noch nicht angewandte Verhaltensweise), in ein Opfer-R. verschärft werden (in dem dann der "Untreue" der höheren Instanz geopfert wird: dem R. als solchem) oder es treten die - ebenfalls ritualisierten - Sanktionen in Kraft, die für "Abtrünnige" vorgesehen sind. Eine andere, erstaunliche Möglichkeit bildet auch die sog. Naturalisierung: Die neue Wendung (die neuen Werte, Verhaltensweisen etc.) wird im Hinblick auf ein nächstes Mal spontan in das bestehende R. integriert und so zu einer seiner (optionalen) Funktionen. In allen drei Fällen aber ist die Aufrechterhaltung eines ritualhaften Ablaufs wichtiger als eine adäquate Reaktion auf die tatsächlichen Ereignisse und wird als solche gesichert - früher oder später wird der beharrende Teilnehmer sein Ziel, die Conversion, erreicht haben: unabhängig von der Form des R., die dann letztlich vollendet wird, unabhängig auch von den "wirklichen", äußeren Gegebenheiten, die ein ganz anderes Verhalten erfordern könnten als das festgelegte.  
     
  • 1  Anm. d. Verf.: Dieser Befund hat, obwohl er erst vor wenigen Jahren Eingang in die Literatur fand, seither die gesamte Forschung beeinflußt. Umso erstaunlicher ist es da, daß sein Urheber auch bei einer kritisch-historischen Würdigung der entsprechenden Fachpublikationen nicht eruierbar ist. Der Name, der den ersten feststellbaren Beitrag zu diesem Themenkomplex firmiert (Science - Nature - Noisma Nr. 11 1991, pp. 56 - 102), Šukram Ginréw, ist offenbar ein Pseudonym, und weder dieser noch ein anderer, später publizierender Verlag kann Angaben zur wahren Identität des Forschers machen. In diesem Zusammenhang sind Stimmen lautgeworden, die von der Möglichkeit eines großangelegten, alle bisher bekannten Normen sprengenden Rituals im öffentlichen Raum sprechen. Die Konsequenzen eines solchen, verschiedentlich "Veröffentlichungs- Ritual" genannten Vorgangs wären für die Fachöffentlichkeit wohl verheerend, denn wenn die Grundlagen ihrer Forschung, die Grundannahme eines zu erforschenden Zusammenhangs, sich selbst als abstrakte, nur durch den Wunsch begründete Vorstellung erwiese, bliebe wohl von ihrer Daseinsberechtigung nicht viel erhalten. Eine wissenschaftliche Untersuchung des Komplexes steht aber noch aus.         zurück zum Text
Ich weiß nicht mehr, warum, aber es war an diesem verregneten Morgen, daß mir der Gedanke kam, alles, was ich an ihr sah, alles, was ich von ihr dachte, könnte für sie unbedeutend sein, das, was ich unter "Wahrheit" verstand, was ich glaubte, erkannt zu haben, könnte in den langen Tagen, die sie ohne mich hatte warten müssen, nicht mehr gewesen sein als das Heulen eines Wolfs, das wohl irgendwie gemeint war, das sicher Ausdruck irgendwelcher schrecklichen Qualen oder schönen Augenblicke war, letztlich aber nicht über das Wesen - und die Gefährlichkeit - des Tieres hinwegtäuschen konnte. Was wenn sie recht hatte in dem, was sie gegen mich vorbrachte? Wohl konnte ich - mühelos, sagte ich mir - jedes einzelne Wort widerlegen, jedes fehlfarbene Bild wieder zurechtrücken. Wohl konnte ich, was sie über mich sagte, als irgendeine Form des Selbstbetrugs entlarven - doch wozu? Es war doch möglich, daß es ihr nicht darum ging, wie und wer ich war - "wirklich war", sagte ich mir -, sondern tatsächlich darum, wie sie mich beurteilen konnte - wie ich wirkte, sagte ich mir. Sie würde, in ihrer Welt, ihrer Sicht, immer noch recht haben, unbeirrt. Und der Wolf würde weiter in einem Käfig auf- und abstreunen, in den ein unverständliches Recht ihn gesperrt hatte, würde meistens stumm von Ecke zu Ecke schleichen, zehn Schritte hin, zehn, manchmal elf zurück, und nur manchmal würde er versuchen, den Gaffern draußen etwas zu sagen, etwas von seinem Schmerz, von der Enge und davon, wie sehr er sich nach dem Wald sehnte, nach dem Geruch von Erde und nach der Sonne - manchmal würde er sie ansehen und versuchen ihnen etwas zu sagen. Da würden sie bei seinem heiseren tiefen Heulen zusammenzucken und einander mit freudigem Gruseln ansehen, der eine oder andere würde vielleicht neugierig hereinsehen ("Was das wohl zu bedeuten hat...?" "Das klingt irgendwie traurig, findet ihr nicht...?") oder ihm eine Wurst hereinwerfen. Und da würde der Wolf dann weitergehen, zehn Schritte hin, diesmal nur neun zurück, und Recht würde Recht, innen würde innen und außen würde außen bleiben, elf Schritte hin, und niemand würde ahnen, wie sehr der Wolf sie bedauerte, die, wohin sie auch gehen konnten, an seinen Stäben scheiterten, mehr noch, die die Angst davon abhielt, hereinzukommen, während er nicht die geringste Angst gehabt hätte, hinauszugehen und wirklich nur von dem rechtwinkligen harten Stahl daran gehindert wurde, zehn Schritte zurück -dem Stahl, mit dem sie ihre Angst auszusperren versuchten aus ihrer sauberen gerechten Welt - denn er, er hatte die Wälder und die Fröste und die Sonne wirklich gesehen, und alles würde eine Ordnung haben, die keiner kannte, eine geheime Ordnung, in der alle, Gaffer, Wolf, Gitter, Helena, ich und alle andern Teil wären eines groß angelegten Spiels, eines genialen, perfiden Bildes, das ein lustvoller Maler ständig neu entwirft. Ach, Bilder... 

Ja doch, es war schon so: Es wäre ihr gleichgültig gewesen, und alle Worte, alle Bilder hätten nichts anderes vermocht, als in ihre Welt zu passen, und sie hätten bestätigen müssen, was schon da war, daß es sauber war und rechtens. Ach, Helena... 

Es läutete an der Tür. Diesmal, ja diesmal ging die Hose wie von selbst zu, das Hemd lag schon um meine Schultern, und ich hätte noch Zeit gehabt, eine Krawatte zu binden, während ich durch den Gang ging. Aber ich hatte keine Krawatte. 

Ich öffnete die Tür und erschrak. Ein hartes faltiges Gesicht starrte mich von unten herauf feindlich an, den Rand des breiten schwarzen Regenhutes bis knapp über die Augen heruntergezogen. Ein kurzen Zucken lief um diese Mundwinkel, als mein Blick auf diese kleinen Augen traf, tiefschwarz eingebrannte Kohlenreste in einer schwammig weißen glatten Masse. Die ganze kleine dunkle Gestalt schien eben erst den Tiefen des Regens entstiegen zu sein, der hinter ihr einen - immerhin - grauen Vorhang zog. Von ihrem langen schwarzen Regenmantel tropfte Wasser in eine Pfütze, die sich um ihre Füße gebildet hatte. Mittendrin zwei zierliche schwarze Schuhe. 
 
 
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Was immer ich auch erwartet hatte in den ersten stummen Sekunden: Mit einem Mal fing die Gestalt zu summen an, nein, eher unentschieden zwischen Gesang und dumpfen Brummen einen Laut von sich zu geben, der höher und tiefer an- und abschwoll, und ihre Augen, diese fürchterlichen glühenden Augen blieben die ganze Zeit auf mich gerichtet, als wollte sie mir gegen allen Anschein klarmachen, daß da irgendwo unter der triefenden schwarzen Hülle etwas Leben verborgen geblieben war, das töten konnte, wenn es nur wollte. 

Und summte. 

Die Melodie, wenn es eine war, kam mir vertraut vor, als hätte ich sie schon stundenlang gehört wußte ich jeden Ton, jede unvermittelte €nderung in der Höhe voraus, bis ich beinahe versucht war mitzusummen. Da brach sie ab. Starrte mich an. Nur der Saum ihres Mantels zitterte noch und schüttelte Tropfen ab. 

"Müssen Sie mir das antun? Sie!?" Eine knarrende scharfe Stimme, irgendwo in den glitzernden Falten zum Sprung bereit. 

"Ich..." 

"Wissen Sie, was das heißt - die ganze Nacht...?! Jede Nacht, Nacht für Nacht, dieses hummmhummhuuum..." Sie summte... "Können Sie sich das überhaupt vorstellen?!" 

Die Stimmen! "Haben Sie sie auch gehört?" 

"Was, gehört?! Die ganze Nacht habe ich kein Auge zugetan, die ganze Nacht, seit Wochen!" Der Mantel bebte. Bäche vertieften die Pfütze. "Seit Wochen schlafe ich nicht mehr wegen Ihnen und Ihrer verfluchten Musik! Auf und ab und auf und ab, immer das gleiche... und dann erst die Schreie; furchtbar!" 

"Ich..." 

"Und sagen Sie nicht, daß das nicht Sie sind! Die Ausrede kenne ich. Dauernd stiftet einer Unruhe, heute im Fernsehen, morgen im Bus - und dann will es keiner gewesen sein." Bei all dem Gerede ließ die Gestalt mich nie aus den Augen. Gefährliche blaue Blitze entluden sich in der Luft um ihren Kopf, liefen den Mantel entlang hinunter. 

"Und..." Da begann sie auch noch zu tanzen, steppte kleine zackige Schrittchen in die Pfütze. "...und ich habe Sie beobachtet!" Eine Pause. "Ha! So dumm bin ich nämlich nicht! Das blöde Gesinge kommt nämlich erst dann, wenn Sie auch da sind, wissen Sie?! Unter Tags, wenn Sie sich wer weiß wo herumtreiben, ist es hier nämlich herrlich ruhig und friedlich, und erst am Abend, wenn Sie in Ihre Räuberhöhle zurückkommen, geht der Zauber los. Ha! Mit Ihnen..." Aus den Tiefen des Mantels kroch plötzlich ein hagerer krummer Finger, wand sich vor der Hand, zu der er wohl gehören mußte, auf mich zu und blieb kurz vor meiner Brust regungslos stehen, als warte er den rechten Moment ab, um auf sie zu tippen. "Mit Ihnen zieht hier nämlich jeden Tag die Unruhe ein, die unheilige Unruhe... ja!" 

"..." 

"Sie schweigen?! Damit haben Sie wohl nicht gerechnet, was?!" Das Ding starrte und starrte. "Aber so kommen Sie mir nicht davon, hören Sie, so einfach geht das nicht. Ich werde Sie anzeigen, jawohl, anzeigen werde ich Sie und den Höllenkrach, den Sie da jede Nacht machen. Und dann machen Sie das mal der Polizei klar, daß Sie das nicht waren! Ich bin nämlich nicht allein, wissen Sie, alle haben es gehört, alle, und Bernhards haben auch schon gesagt, daß man da was tun muß, jawohl. Die unterschreiben auch, wenn wir Sie anzeigen, nämlich. Ich bin da nicht allein, das müssen Sie wissen, Sie..." 

Die Pfütze unter der Gestalt war immer größer geworden, und je mehr Wasser von oben dazukam, desto dunkler wurde sie, beinahe schwarz war sie schon, wie ein Loch - einen Augenblick der Stille lang hatte ich den Eindruck, daß das Wesen jetzt nach dem letzten Paukenschlag darin versinken müßte, einer gemeinen Dramaturgie folgend, die ohne irgend etwas zu erklären alles gelten läßt und noch mit dem Unwahrscheinlichsten die größte mögliche Wirkung erzielen will. 

Aber das Ding blieb in seinem Wasser stehen und funkelte mich weiter boshaft an. 

Was gab es zu sagen? Es stand ja ohnehin schon alles fest, egal, was ich gesagt hätte: Ich hatte offenbar meine Rolle bekommen. Ich spürte, wie eine schwere alte Müdigkeit sich auf meine Stirn setzte. 

"Sehen Sie... ich bin das wirklich nicht. Ich weiß genauso wenig wie Sie! Gerade erst letzte Nacht..." 

"Ha!" machte das Ding, dann noch einmal, verächtlich: "Ha!!" Und dann: Das Gesicht unter dem breiten schwarzen Hut verzog sich, mehr als es schon war, zu einer spitzen Fratze, die Augen wurden noch kleiner, enge Schlitze in dem Schwamm, die Lippen traten schmal und hart vor, und das Ding spuckte einen großen weißen Schleimbrocken vor meine Füße auf den Boden. "Ha!" 

Dann wandte es sich mit einem Ruck um und wackelte mit einem eigenartigen Hüpfen in den Regen hinaus. Ein Bein kam dabei immer langsamer dem andern nach, um sich, wenn es es eingeholt hatte, abzustoßen und die ganze Gestalt aus dem Gleichgewicht zu bringen, so daß das zweite, scheinbar gesunde Bein schnell weitermußte, um einen Sturz nach vorn zu verhindern. So hüpfte die Gestalt in den hellen grauen Schleier davon, der sie erst mit einer dünnen Nebelschicht überzog, dann noch einer, bis sich nur meh ein rhythmisch auf und ab tanzender dunkler Fleck vor den fernen Häusern abzeichnete, schließlich ganz verschwand. 

Ich glaube, ich habe die Tür erst ganz geschlossen, als ich schon lange nichts mehr sah. Lange muß ich in das urweltliche Fließen hinausgestarrt haben, lange, bis dieser Punkt über meinen Augen weich wurde und die Müdigkeit mit dem Regen hereinließ, bis irgend etwas in mir hinauszog, hängenblieb an dieser grauen Wand, die sich ständig von oben heruntersenkte, ohne je den Boden zu erreichen, diese ständige Bewegung, die nie ausreichte, das Ziel zu erreichen, sich über meine Augen senkte. 

Oder? 

Oder ich fluchte der Gestalt nach, unflätige heiße Luft, die gegen die Wand prallte und von der zufliegenden Tür zurück ins Haus gesperrt wurde. 

Egal. 

Hinter jeder Erinnerung eine Tür, die mich hinausführt, eine nächtliche Landschaft, in die von weit her die erste rötliche Dämmerung kriecht, jede Tür eine Erinnerung an etwas, das einmal davor gelegen ist und jetzt auf der andern Seite verschlossen liegt, da ich durchgegangen bin; ein Lichtschimmer, der durch den Spalt dringt. 

Wenn sie jetzt dagewesen wäre, was hätten wir lachen können, wenn... 

Aber sie war ja nicht da, eine sechzehntel Laune des Schicksals (eine ungnädige, wollte ich mich noch fragen) hatte sie entführt, sie meiner Gegenwart entrissen, und mir blieb das unbestimmte Gefühl, daß sie irgendwo dort draußen in der Nähe war, irgendwo zwischen den großen Tannen und dem verschwindenden Schlachthaus dort vielleicht, versteckt und doch sichtbar, wenn ich nur im richtigen Augenblick hingesehen hätte. Vielleicht hätte ich sie tanzen sehen können dort draußen, wie sie sich so genau im Rhythmus der Regentropfen drehte und bewegte, daß kein einziger sie traf, wenn ich nur richtig hingesehen hätte - doch meine Blicke wurden von den fallenden Tropfen abgefangen, für jeden, der weiter in den lebendigen Schleier vordrang, gab es irgendwo ein glitzerndes Stück Wasser, das ihm entgegenflog. Vielleicht tanzte sie gerade jetzt da draußen im Garten, nahe am Haus vorbei, und ich konnte starren und starren, ohne das Funkeln ihrer Augen, ohne ihre fliegenden nackten Füße im schlammigen Gras zu sehen, vielleicht warf sie gerade jetzt ihren Kopf in den Nacken und ihre Augen blitzten zu dem Fenster hoch, hinter dem ich gerade noch gestanden war, leuchtend weiß ihr Kleid vor dem fetten Grün der Blätter, leuchtend schwarz ihre Haare unter dem fernen Schimmer von Licht, der von irgendwoher auf sie gerichtet war, ein eigentümliches Leuchten vielleicht hinter den Bäumen, das sie von hinten umfing und ihre Konturen zeichnete, ein wissender Liebhaber, der ihr von ferne, aus der Distanz von Millionen von Jahren zusah - und lächelte. 

Was sah ich draußen? Nichts. Nur hie und da fühlte ich mich noch versucht, zu einem anderen Fenster zu eilen, aber wahrscheinlich wäre auch das dann das falsche Fenster zum falschen Zeitpunkt gewesen, und vielleicht wäre mir aufgefallen, wenn ich darauf geachtet hätte, daß der graue Schleier rundum plötzlich dichter war, daß er näher, sehr nahe gekommen war und den Garten erreicht hatte, ein fließender, pulsierender Ring um das Haus, der die Stadt, die Welt hinter den Bäumen ausgesperrt hatte, ein dichter undurchdringlicher Wall, der selbst die letzten Geräusche schluckte, die noch nicht im Regen ertrunken waren. 

Ja, wenn sie jetzt hiergewesen wäre... wir hätten uns gegenseitig festhalten können, hätten an unseren weichen flüchtigen Körpern Halt finden können, und, wer weiß, vielleicht wäre es uns sogar gelungen, diese Türe aufzumachen, die, zwischen uns, uns voreinander verbarg, nur einen Spalt breit diese verfluchte Tür aufzumachen, an der ich mir schon so oft die Fäuste, den Kopf blutig geschlagen hatte und an der schon so viele Worte versagt hatten. 

Ja doch, mir scheint, ich glaubte das wirklich. 

Vielleicht hätten wir uns auch aufs grausamste zerfleischen können, gegen unsern Willen ein schmerzhaftes Wort auf das andere geworfen, und wenn es dann still und erstickt liegenblieb, eine neue empfindliche Stelle gesucht. Wir hätten uns das ganze Gewicht unseres Unverständnisses, unserer Blindheit entgegenwerfen können, riesenhafte groteske Ritterheere, die steif und schwer auf ihrer Rössern über blühende Wiesen sprengten. Fliegende Hufe, die den weichen Boden zerfetzten, schnaubende Mäuler, von schwerem Zaumzeug zerrissen, aus denen der Geifer troff, große fliegende Tropfenschnüre, die eigentümlich weiß auf der dunklen Erde liegenblieben und wohl noch dort klebten, als der Nebel hinter den klirrenden Horden wieder aus dem Wald trat und die Wiesen überflutete.  

Die Helme, diese verfluchten Helme auf unseren verfluchten Köpfen, sie wiegen zu schwer, als daß wir den Kopf noch bewegen könnten, sie bedecken das Gesicht, den genzen Schädel bis zu den Schultern, und dieser eine schmale Schlitz, der uns das Licht hereinbringen sollte, ist zu eng. Zu eng haben sie ihn uns gebaut, da sonst die Schwerter hineinfahren und sich in unsere Augen bohren könnten, unsere weichen verletzlichen Augen, die so scharf sehen würden - zu eng, als daß wir sähen, was draußen vor sich geht. Wir riechen den Geruch unseres eigenen Atems, den unseres eigenen Schweißes, vermischt mit dem sauren Geschmack des rostenden Metalls, in das sie uns geschnürt haben (Kunst und Stolz unserer besten teuersten Schmiede), das dumpfe Motten unserer Hemden (zartes Werk unserer starken Mütter). Der schmale Strich Welt vor unseren Augen! Was dort auftaucht, ob Vogel, Ast, Pfeil oder Kopf - zuerst kommt immer der Schatten, der schnelle Blick auf den Umriß, der bestimmen muß, ob wir zuschlagen oder nicht. Und mit jedem Blick schnellt unweigerlich die Angst hoch aus den dunklen Tiefen unserer Rüstungen, die Angst, daß wir einen Moment zu vertrauensvoll sein könnten oder schon gewesen sind, einen letzten Augenblick zu lange gezögert haben, bevor der Schlag uns dann doch trifft, den wir nicht vermutet haben - also schlagen wir zuerst zu, beim ersten Anzeichen einer Bewegung schlagen wir in die Richtung, wo wir sie vermuten, und alles Vertrauen, das uns die Dunkelheit in unseren Augen nicht geben kann, alles Vertrauen legen wir in die Kraft dieses Schlages, in die Härte des Stahls, den wir in der Hand halten. Und erst wenn wir dann spüren, wie er aufspritzend in etwas Weichem versinkt, wie sich etwas getroffen zusammenkrümmt, werden wir wieder ruhig.  

Unsere Rösser, unsere dampfenden riesigen Rösser rennen, rennen den Feind zu suchen, und wohin sie auch rennen, nehmen sie uns mit: sie finden immer einen. Wozu sollten wir sie lenken? Sie kennen den Weg alleine. Ihre kleinen Augen sehen jede Bewegung, jedes verräterische Huschen im Unterholz, und unbeirrbar halten sie darauf zu - wenn sie langsamer werden, eine kleine Unregelmäßigkeit in ihrem Schritt uns verrät, daß sie etwas Lebendiges gewittert und aufgespürt haben, dann schlagen wir zu. 

Ja, wenn sie jetzt hiergewesen wäre, wir hätten ungeheure Schlachten entfesseln können, gewaltige Heere blinder tödlicher Reiter, die besinnungslos aufeinander eindroschen - wenn ich sie nur gefunden hätte dort draußen. 

Vielleicht wollte ich sie auch gar nicht finden - nicht mehr oder noch nicht, nicht jetzt - aber wann? 

Egal. 

Wir sind ja friedlich. Unsere Augen liegen ja still in ihren Höhlen, die Blicke, die sie hinauswerfen, umfangen müde ihren Gegenstand und lassen ihn wieder fallen, um sich bald dem nächsten zuzuwenden, und auch der fällt schon wieder. Was in diesem gottverdammten Regen wäre es schon wert, für es herauszukommen, was, wo doch ohnehin alles gleich naß und triefend dasteht, geduckt und ergeben, zum Warten verurteilt? 
 

    Kann nun davon ausgegangen werden, daß zu jedem feststellbaren Zeitpunkt ein einzelner oder eine Gruppe von Individuen heimlich oder offen den Regeln eines R. folgt, so kann bei der aufgezeigten Fülle der möglichen Formen auch als gesichert angenommen werden, daß es zum selben Augenblick andere gibt - Einzelne oder Gruppen -, die in der Erfüllung eines anderen R. begriffen sind. Treffen nun die Teilnehmer der verschiedenen, sozialisationsbedingt meist "verborgenen"R. aufeinander, kommt es zur sog. wechselseitigen Duplizierung (MDP; mutual duplicatory process), in der sich die beiden Formen gegenseitig außer Kraft zu setzen versuchen - wie zu erwarten wäre -, zu diesem Zweck gleichzeitig aber die Bedingungen des jeweils anderen den eigenen anfügen (um es auf dessen ureigenstem Grund zu übertreffen, es "mit seinen eigenen Waffen zu schlagen"?), ohne dabei jedoch das eigene Ziel, die Conversion, aus den Augen zu verlieren. Das dabei entstehende, mehr oder weniger spannungsgeladene, auf jeden Fall aber hochkomplizierte Gebilde stellt zugleich die höchstentwickelte in der Literatur beschriebene Form eines R. dar: das konditional interaktive R. (oder MDP-R.). Jeder Teilnehmer darin befindet sich in einer doppelten Funktionalisierung: als Teil des eigenen und des fremden R. So starr ist dabei aber die Struktur, so dezidiert die Sanktionsandrohungen, daß in sämtlichen Untersuchungen zum Thema kein einziger erfolgreicher "Ausstieg" festgestellt wurde. Hinzu kommt, daß ein MDP-R. bei einem ungefähren Gleichgewicht der Kräfte nicht erfüllbar ist - keine der beiden Parteien kann die Oberhand gewinnen, da, gemäß dem Grundsatz der Selbstbeharrung, das MDP-R. selbst zu einem sekundären R. geworden ist und nach Beharrung strebt. Jede Veränderung des Kräfteverhältnisses würde die stagnierende Polarität, aus der es seinen Impetus bezieht, stören. Eine neuere Studie sieht eben diese Stagnation als eigentliche Conversionan, macht aber u. a. nicht klar, warum die der C. eigene Beruhigung nicht eintritt, oder warum das R. dann weiter aufrechterhalten wird. Die Implikation, das R. als Selbstzweck, wird von sämtlichen wichtigen Forschern rundweg abgelehnt. Die Beharrung auf dem Zielstreben bei gleichzeitiger Unmöglichkeit, die eigene Position aufzugeben, bedingt, daß das MDP-R. nicht auf ein bestimmtes Ziel angelegt ist, sondern auf eine hypothetische Ewigkeit. Diese besondere Ausprägung ist es schließlich auch, die ihm unter den R. eine Sonderstellung verleiht, welche bezeichnenderweise der jüngsten Studie des oder der unter dem Pseudonym Šukram Ginréw publizierenden Forscher(s) den Titel gab: Das Totale Ritual!  
     
  • 2 Der von Beckham geprägte Begriff "clandestine pursuit" bezeichnet eigentlich eine Unterform des R., in der die Teilnehmer eines stationären, einen bestimmten Zustand betreffenden R. einander unabhängige Formen zugestehen, solange die gemeinsame Conversion - in diesem Falle die Erhaltung eines, meist gemeingesellschaftlichen Zustandes - gewährleistet bleibt.      zurück zum Text
Ja, wahrscheinlich wäre es dabei geblieben: das gegenseitige Ertragen, das Stillhalten, meistens, um etwas zu erhalten, von dem keiner sicher war, ob es überhaupt bestand; das Schweigen um der letzten Konsequenz willen, die keiner ziehen wollte. Und dazwischen hätte sich, unvorhergesehen, unvermittelt, hinter einem Wort, einer Geste hervorspringend, der Haß entladen. Mit ein paar Schlägen eine Lücke geschlagen in der dicken grünen Wand von Urwaldblättern, durch die er dann erst die reißenden Zähne fletschte und dann mit weit aufgerissenen Augen in das schreckensstarre Gesicht dessen sprang, der versehentlich einen Blick hinter den unscheinbaren Strauch geworfen hatte. Nach getaner Arbeit dann der trollende Rückzug, um sich erst schlafen zu legen... aber schon bald würde er wieder erwachen, wieder hungrig werden... 

"Ja, wenn sie jetzt hier wäre..." dachte ich, erschrocken, und mußte doch genau gewußt haben, daß die Hoffnung, doch noch die richtige Türe aufzubringen, nicht ewig halten würde, das die Hände, müde und schmerzend von dem langen Klopfen, kraftlos herabsinken würden, irgendwann... 

Plötzlich sprang ein Fenster auf, und mit einem Schwall Regen fuhr ein eisiger Wind ins Zimmer. Ich lief hin, schloß das Fenster, aber als ich mich wieder zurückwandte, hockte da schon die Kälte einsam vornübergebeugt am Tisch, und das falsche gelangweilte Lächeln auf ihren schmalen Lippen ließ mich schnell die Augen niederschlagen. Irgendwo in meiner Brust gefror ein kleiner Tropfen Wasser. Ob es dieses Jahr auch Winter werden würde? 
 
 
 
 
 
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