Die lauten Tage des Windes
Laßt es mich sagen: es ist
schön hier.
Die Blumen tun, was man von ihnen
erwartet: sie blühen. Nach Farben und Größen geordnet stehen
sie in Gärten, hängen von Fensterbänken und Balkonen und
blühen sich die Seele aus dem Leib. Ihre weißen roten blauen
gelben grünen Rispen Dolden Köpfe Blüten sprühen traute
Harmonie und Ordnung.
Das Gras ist grün, und sogar
der Himmel kann sich wieder einmal sein eigentümlich durchsichtiges
Blau abringen.
Perfekt.
Die Menschen sitzen mehr oder weniger
zufrieden in ihren Häusern, wie sie es immer schon getan haben, und
die Kinder, die man noch nicht daran hindern konnte, spielen auf den dafür
vorgesehenen Flächen die Spiele, die sie immer schon gespielt haben.
Ihre Stimmen hallen weit durch die leeren Straßen, und mancher fährt
zusammen bei ihrem unerwarteten, hellen Klang.
Die Häuser stehen immer noch,
deren Fassaden nichts von dem verraten, was hinter ihnen an Enge, Haß,
Größe, Menschlichkeit und Unmenschlichkeit haust. Teilnahmslos
starren ihre Fenster in die Welt hinaus, vor der sie schützen sollen,
und spiegeln da und dort gleißend helle Flecken auf die Erde hinunter,
die hier aus Stein besteht, während sich dort noch ein paar verstaubte
Pflanzen an ein freies Stückchen Boden klammern.
Ruhe herrscht.
Wenn da nur nicht dieser gottverdammte
Wind wäre. Nachts schleicht er sich durch die Straßen, gegen
deren graue Übermacht die Blumen aufgehört haben anzublühen,
und drückt gegen die Fenster auf der Suche nach einem, das nicht gut
verschlossen ist. Er drängt durch Ritzen, quillt unter Türen
herein wie eine dicke klebrige Masse. Dieser Wind, von dem es heißt,
er kommt aus weit entfernten Steppen, bringt Unruhe in die Herzen der Menschen.
Wenn er weht, kriecht die Furcht in ihre Betten, und in ihren Träumen
spüren sie eine Sehnsucht nach etwas, das sie einmal besessen haben,
ohne es zu wissen. Vergessen liegt es jetzt stumm neben ihnen und brennt
in ihrer Seite; jetzt, da sie es spüren, finden sie es nicht mehr,
und wütend wirft sie ihr Schlaf auf die andere Seite, während
der heiße trockene Wind an ihren Fensterläden rüttelt.
Geschichten aus lang vergangnen Zeiten steigen unter ihren Kissen hervor,
blaß und wächsern drängen sie sich an die harten unruhigen
Leiber in den Betten. Doch sie schlafen weiter und spüren den Ansturm
nicht; nur in ihren Träumen sehen sie ein Bild, das sie nicht verstehen:
Ein weites helles Land, in dem zähe Büsche sich über dürren
gelben Halmen ducken, ein heißer Wind jagt gewaltige Staubwirbel
vor sich her durch die Ebene, und auf dem Horizont klebt eine schwere schwarze
Wolke, ein ungeheurer dunkler Schwamm, der das Licht aus allen Farben saugt.
Immer näher kommt die Wolke,
immer tiefer taucht das Zwielicht ins Blau, nein! Sie selbst sind es, die
sich auf die schwarze Masse zubewegen, der Wind trägt sie mit sich,
unter ihren Füßen fliegt der Boden vorbei, zu schnell, um etwas
zu erkennen, zu tief, um darauf Halt zu finden. Schneller, immer schneller
geht der Flug, die Erde rast, der Staub peitscht ihnen ins Gesicht, immer
näher kommt die Dunkelheit, schon füllt sie den ganzen Himmel
aus, sie schreien, schreien gegen die Nacht an, vergebens, da verschluckt
sie die gigantische Masse, und mit einem Schlag ist alles ruhig.
Schwarz und ruhig sind ihre Augen,
die nichts mehr sehen müssen, still und leicht liegen ihre Knochen
in dem stillen schwarzen See, und das einzige, das sie noch spüren,
ist ein Lufthauch, der die Blumen auf ihren Gräbern zittern läßt.
Ihr Erwachen ist bleiern und doch
von einer eigenartigen Erleichterung begleitet; mit dem Schweiß versuchen
sie dann das Bild abzuwaschen, das die Nacht in ihre Augen gezeichnet hat,
und manchmal gelingt es ihnen, und manchmal nicht, es bleibt das vage Gefühl
zurück, etwas verloren zu haben, das sie einst besaßen und das
jetzt ein anderer besitzt.
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("Rheintaler Literaturpreis" 1996)
Laßt es mich sagen: es ist
schön hier.
Wenn sie sich dann wieder langsam
und schwerfällig an das Leben machen, das der Vortag auf dem Küchentisch
liegengelassen hat, kehrt Ruhe ein, und sie beginnen ihr tägliches
Treiben. Der nächtliche Sturm kann ihnen nichts mehr anhaben, sie
sind erwacht, um ihn zu vergessen. Es herrscht ein stilles Einverständnis
unter ihnen, daß im Vergessen allein Rettung liegt, daß nur
Erstarrung Sicherheit gibt; wenn sie sich auf der Straße treffen,
geben sie sich heimlich Zeichen, um sich zu vergewissern, daß keiner
anders denkt, und gemeinsam gehen sie Tag für Tag daran, das was gestern
war und was immer war, über das zu erheben, was heute ist und sein
wird, über das, was morgen sein könnte.
Die Kinder sind eine kleine unmerkliche
Spur lauter an diesen Tagen, wenn dieser verdammte Wind weht, und ihre
Spiele scheinen nicht mehr die alten zu sein, sondern neue, unheimliche,
aufregende, doch wem fiele das schon auf. Ein eigenartiger Ernst liegt
in ihrem Lachen, ein Ernst, den ihre Augen nicht betrügen können.
Die Menschen ertragen den Lärm nicht an diesen Tagen, wenn der Wind
weht, ihre Befehle und Aufrufe zur Ruhe klingen schroffer und schärfer
als sonst. Es hagelt Schläge, ohne daß jemand sagen könnte,
warum ausgerechnet heute, und zufrieden grinsen die vor sich hin, die beim
Tollen der Kinder immer ärgerlich auffahren.
Doch die Geschlagenen weinen nicht,
und sie lassen sich nicht einschüchtern von den Befehlen und von der
Gewalt, die ihnen entgegenbranden; laut und fröhlich spielen sie weiter.
Denn sie wissen, daß ihnen nichts geschehen kann.
Der Wind hat es ihnen erzählt,
als er in der Nacht an ihren Betten saß; als die Großen sich
unruhig in ihren schweißnassen Laken wälzten, sind sie hellwach
gesessen und haben aufmerksam auf das gehört, was der Wind ihnen erzählte.
Von luftigen Höhen hörten sie, von Höhlen in erloschenen
Sonnen, von der Weite und von der Hitze der Steppe; gebannt haben sie den
gewaltigen Symphonien gelauscht, die unzählige Staubwolken in die
Luft pfiffen. Als die Hunde sich in ihren Hütten verkrochen, als die
Dachbalken schwer ächzten und ein Funke genügt hätte, die
trockene Luft zu entzünden, da haben sie gehört von dem vergeblichen
Kratzen, mit dem die Menschen sich am Erdboden festzuklammern meinen, und
davon, daß, was sein wird und was sein könnte, was immer es
ist, das ihre sein wird.
Es ist der Wind der Kinder, den
niemand aushält und der von der Macht dessen kündet, was die
Menschen Zeit nennen, eine Ahnung vom Ende, dem blindlings Tausende von
Anfängen folgen werden, und eine letzte Spur der Erinnerung daran,
selbst nächtelang dem berauschenden Murmeln des Windes gelauscht zu
haben.
Und unbeirrbar tun die Menschen
weiter, was man von ihnen erwartet: sie leben. Nach Alter und Familien
geordnet sitzen sie in Häusern, gehen durch Straßen und Parks
und leben sich die Seele aus dem Leib. Ihre weißen roten blauen gelben
grünen Mäntel Jacken Hüte Hemden sprühen traute Harmonie
und Ordnung.
Ich schaue die Straße hinunter
und sehe einen kleinen Jungen, allein, der sein Gesicht dem immer stärker
werdenden Wind entgegenhält; seine Haare fliegen, seine Augen sind
zu Schlitzen verengt, und langsam, ganz langsam weiten sich seine Lippen
zu einem Lächeln, aus dem mich die Weisheit langer Sturmnächte
ansieht.
Laßt es mich sagen: es ist
schön hier.
Markus Wernig |