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Geister, Sänger, Staubkörner 

Welch ein Aufruhr, welche Stille! Menschen waren gekommen und gegangen, Männer, Frauen, Mädchen auch, die gerade erst von der Schulbank aufgestanden waren, und hatten Bündel von Papier gebracht, wieder geholt, beseelt von der Überzeugung, daß diese jetzt den Mittelpunkt der Welt darstellten und daher Interesse verdienten. Oder war es nicht so? Lag anderes hinter ihrer Fassade, die sie so überzeugt vor sich hertrugen? Hatten sie das Spiel durchschaut, das wir da spielten? Ich glaube schon. Ich denke, daß da anderes wichtiger war, daß da große und tiefe Freuden und Schmerzen hinter diesen Gesichtern lagen, daß die funktionierende Hülle nicht mehr war als eben das: eine Hülle. 

Ich war den ganzen Tag über in dem Raum gesessen, den sie Büro nannten, Helena wie Staub auf meinen Gedanken - war sie freiwillig gegangen? wenn ja, warum? was waren die Anblicke, was die Augenblicke, die sie so lange umgeben hatten und die sie nun mit einem Mal nicht mehr um sich haben wollte? wo lag die Linie, die zu übertreten ihr Befreiung versprochen hatte, wer hatte sie gezogen? - und hatte den Menschen zugesehen, die Papier auf den Tisch legten, den sie meinen Schreibtisch nannten, hatte, ohne etwas zu verstehen, die Zettel gelesen, mein Zeichen daruntergesetzt und sie dann weitergegeben - um den Fluß dieser Papierstücke in Bewegung zu halten, bedurfte es nur meiner Unterschrift, nicht der inhaltlichen Richtigkeit, nicht meines Verstehens: die Fehler hätte der nächste Tag, die nächste Ausgabe ans Licht gebracht, und der übernächste hätte sie wieder vergessen gehabt. 

Hielt man sie irgendwo fest? Ich schob ein Bündel weiter, irgendwer nahm es weg, irgendwer brachte ein neues, es war wie immer, Namen, Daten, Preise und Ereignisse wechselten sich vor meinen Augen ab, ohne Gestalt anzunehmen - und doch stimmte nichts mehr, nichts paßte mehr zusammen. Jede Bewegung, jede Konzentration kostete mich unendliche Mühe, jedes Wort, das ich sagte, war für sich schon eine Lüge, da ich mich weder für das, was ich sagte, noch für das Ergebnis oder die Folgen des Gesprächs im geringsten interessierte. Tot und falsch kippten die Sätze aus meinem Mund und zerschellten sinnlos auf dem Boden zwischen den andern, die sich dort schon angesammelt hatten, taub saugten meine Ohren Geräusche aus der Luft, die nichts enthielt als weitere spröde Brocken Sprache - bis langsam, über Stunden, mit jeder dumpf tätigen Minute klarer werdend, ein Bild näherkam, besser noch: ein Blick, den ich auf mich selbst warf, der Schicht für Schicht das trübe Licht durchsickerte, das mich umgab, erst nur eine verschwommene Gestalt freigab, dann Stück für Stück deutlicher, mir einen Anblick zeigte, den ich aus den dunklen engen Stunden vage kannte, in denen am hellen Tag Stimmen aus der Nacht Versprechungen murmelten, die im Dämmer schon unwahrscheinlich, in der Dunkelheit dann, wenn sie eingelöst werden sollten, zu Fratzen des blanken Hohns wurden: Ich sah mich mit den Augen eines Fremden, eine leere Fassade unter vielen, kauernd am Tisch mit Hingabe vertieft in Belanglosigkeiten, die ich scheinbar für wichtig nahm, nicht mehr zu unterscheiden von den andern, die kamen und gingen, mit ihnen verbunden durch ein geheimes Gesetz, durch die reine Anwesenheit in dem Bild. 

Und gleichzeitig spürte ichÉ mich, mich selbst, wie ich unter der Hülle verborgen meinen Gedanken nachhing, Helena nachzufühlen versuchte - von außen war nichts zu sehen -, ich fand sie nicht! 

Ein Mädchen aus der Setzerei kam zu mir, fragte mich etwas, sie wirkte fahrig, trat von einem Bein aufs andere, und ich antwortete, wir sprachen miteinander - ob ich auch spüren könnte, was sie fühlte, ob ich auch hinter ihre Hülle dringen könnte? Was dachte sie, was fühlte sie, wenn sie mit mir sprach? Bestimmt nicht das, was sie sagteÉ sie war so unruhig; was sah sie, wenn sie aus dem Fenster schaute? Welcher Wind wirbelte in ihr Staubfontänen hoch, wie roch er, woher kam er - wie fühlte er sich an? Welche stille Musik spielte da hinter ihren hellen Augen, welchen Takt hielt der Generalbaß, auf dessen Höhen und Tiefen sie sich wiegte, bei sich, wenn das da draußen nur mehr von fern zu ihr hereinklang, wenn meine Stimme nur mehr eine Erinnerung an die Gegenwart war? Oder waren es wilde Triller, die sie hierhin, dann dorthin hetzten, die ihr die Stille noch der letzten Augenblicke vergällten mit der Angst vor dem nächsten schrillen Ansturm, die ihr die Ruhe raubten, wenn sie ihrer am meisten bedurft hätte? Ganz kurz meinte ich etwas zu hören, glaubte ich, in einem Blick, einem Zucken der Hand zu sehen, wie zwei Linien parallel geführt wurden, die in Zeit und Raum unendlich weit voneinander entfernt liefen, meinte, im Äußeren ein Abbild des Inneren zu sehen - dann war es wieder weg. Die Türe hatte sich wieder geschlossen, durch die ich einen Augenblick in das Innere eines Hauses gesehen hatte, gemeint, den Ansatz einer Treppe, den Umriß einer weiteren Türe im Halbdunkel zu erkennen, und ich stand wieder vor der Fassade, sah die blinden Fenster, die brennend klaren Augen des Mädchens, und begann schon zu vergessen, wie es dahinter ausgesehen hatte. Ich sah ihren Mund sich bewegen - ach, dieser Mund: wie oft schon hätte ich ihn gern geküßt, hatte ich ihm den schmerzlichen Zug wegnehmen wollen, der ihn oft plötzlich mit Gewalt zu besetzen schien - ein Wort, ein Blick, wahrscheinlich ein Gedanke genügte -, wenn auch von außen nichts darauf hindeutete, daß etwas Enttäuschendes, Schmerzliches passiert war. Doch was waren ihre Anlässe, wo sprangen ihre Gedanken auf, um die Gefühle aus ihren warmen Winkeln heraus und vor sich herzuhetzen? Die flüchteten sich dann wieder in alle möglichen dunklen Gänge, zu schnell und zu verstreut, als daß sie noch auffindbar gewesen wären? Die Gedanken setzten sich wohl irgendwann wieder, ihrer eigenen Erklärbarkeit überdrüssig, doch die Gefühle: sie irrten weiter, Scharen aufgescheuchter Vögel zogen am Himmel, hier ein wild flatternder Schwarm, dort ein einsam gleitender einzelner, der tief unten Schatten warf; schon lange dem Schrecken entflogen, der sie aufgescheucht hatte, brachten sie die Luft in eigenartige Schwingungen, die Räume, über die sie zogen, vibrierten hier hell und leise, dort schlugen dumpfe Trommeln aus einem geheimen Versteck - sie scherten sich nichts um die Sicherheit, die ein Baum verhieß oder ein offenes Feld - es sind andere Sichten, die ihre Augen suchen. Hier ein Luftzug, dort ein Ton - wer sollte sagen, was sie lenkt, welchem Signal sie folgen, wenn sie plötzlich mit einem leichten Schwung, einem Zucken des Kopfes, die Richtung ändern, hierhin, dorthin mit ihren Flügeln einen Wirbel schicken? Kein Ruf hält sie auf, im Gegenteil, facht die Unruhe wieder neu an, mit der sie flüchten, stellt einen neuen Grund dar, sich dem Boden zu entziehen - und von Mal zu Mal geht der vorherige Grund vergessen, wird der eine zum wichtigsten, um in der Schwebe zu bleiben: lange schon verweht der erste, der klirrende Gedanke in dem engen Gemäuer, jetzt gilt es nur mehr in immer wilderem Flug weiterzukommen - weg! weg! wohin? Weg!! -, und unten rennt alles in Aufregung hin und her, ducken sich bange Augen hinter Mauerecken, starren gebannt auf das Schauspiel am Himmel, unfähig, sich ihm zu entziehen, das das Licht zittern läßt, und immer bedacht auf der Hut, darauf bedacht, sich zu schützen, hin- und hergerissen zwischen grenzenlosem Erstaunen und Furcht, das Gesicht zu einer Maske voll Bedauern und Hoffnung verzogen - Hoffnung darauf, unter einem klaren Himmel Ruhe zu finden, Bedauern darüber, damit nie dort oben seine Runden ziehen, nie das Licht, die Leichtigkeit, den Wind der eigenen Bewegung spüren zu können. 

Wie oft hatte ich diese Maske, dieses Bild aus ihrem Gesicht nehmen wollen, und wie oft hätte mir nur ein tiefer, leichter Kuß die Kraft, die Größe dazu zu haben geschienen. Und so hatte ich es bleiben lassen, hatte mich in freundlicher Unverbindlichkeit geübt, gegen besseres Wissen in der Hoffnung, daß sie von selbst die Kraft fände, diese stille, ruhige Kraft zu fordern. 

Nein, es ging mir nicht um den Kuß, und auch das Gefühl, ihren Körper zu begehren, befiel mich nur in sehr harten, dunklen Augenblicken, wenn ich nichts als ein schmerzender Klumpen von wild um sich schlagenden Wünschen und die Welt ein Käfig war, durch dessen Gitter ich all das zu sehen glaubte, wonach mich so schmerzlich verlangte - ich meinte zu spüren, wie sie nach dem Weg, dem Schacht suchte, an dessen Ende sich ein ruhiges Licht abzeichnete, und ich meinte, daß nur eine Hingabe, bei der sie nicht mehr Angst haben müßte, sich zu verletzen, ihr die Möglichkeit gegeben hätte, diesen Weg zu gehen, egal, wer ihr die Tür dazu öffnete. 

Ja, ich habe viel gemeint - gemeint, viel zu haben. Soll ich sagen: ich Narr? 

Bloß Helena, meine flüchtige Helena hatte sich mir entzogen, immer schon. Nein, sie hatte sich nicht verschlossen, hatte nichts verborgen (ein Aberglaube von mir? intuitive Sicherheit?) - ich war es, der es nicht schaffte, zu ergründen, was hinter ihrer Fassade lag, irgendwie fast immer an dem Äußeren, den Worten, Taten, Gesten hängenblieb, ich hielt sie für wütend, wenn ihr Gesicht sich verzog, für fröhlich, wenn sie viel scherzte und redete, ich nannte sie launisch, wenn sie, ohne daß ich einen Grund hätte sehen können, irgendein Wort, einen Satz, den ich gesagt hatte, so lange drehte und bearbeitete, bis sie ihn gegen mich richten konnte - was sie dabei bewegte, blieb mir verborgen, ich sah die Vögel nicht, spürte nicht den Luftzug, den ihre Flügel bewegten. 

Von den Bekannten und Verwandten, die ich anrief, hatte sie - natürlich? warum dachte ich: natürlich?!- keiner gesehen, und das ungläubige Erstaunen, die stille Lust an der Sensation, die ich als ebenso unausgesprochene wie beständige Antwort auf meine Frage bekam, ließ mich das Ganze schnell überall als einen Scherz Helenas ausgeben, als das neckische Spiel zweier immer noch Verliebter. 

Ich glaube, ich habe meine Rolle überzeugend gespielt. Ja, ich glaube, ich habe meine Rolle, das Hin-und-her-Bewegen dieses Körpers, dem sie meinen Namen gegeben haben, ein Leben lang recht gut und glaubwürdig gegeben, habe die Anforderungen, die Publikum, wechselnde Regisseure und Mitspieler an mich stellten, recht fleißig erfüllt und, wie ein guter Schauspieler es tut, zu verstehen gegeben, daß es die gleichen sind, die ich an mich selbst stellte. Und ich habe, trotz kleinerer und größerer Unsicherheiten, den Part gehalten, als mir kurz nach den ersten, besonders anstrengenden Auftritten, Schweiß und Blut, von einer Stimme irgendwo aus dem Dunkel hinter den Scheinwerfern klargemacht wurde, daß ich weiterzuspielen hätte, daß ich die Bühne nicht mehr verlassen dürfte, bis das Zeichen käme. "Dein Leben, Mensch" - die Stimme klingt noch in meinen Ohren, die mich aus dem Dunkeln zurück ins fahle Bühnenlicht schickte, als ich damals meinte, die Szene erfolgreich hinter mich gebracht zu haben. Zuerst war da noch die Angst gewesen - neuer Part, neue Szene, ganz ohne Vorbereitung -, dann war sie, von Mal zu Mal kleiner, einer müden Sicherheit gewichen, nachdem ich ein paar Durchgänge später bemerkt hatte, daß ich nur einige wenige Zeilen zu behalten hatte, daß niemand etwas anderes von mir erwartete, als daß ich weiter sagte, was man schon von mir kannte, daß ich die Rolle durchhielt und niemanden in die Verlegenheit brachte, darüber nachdenken zu müssen, wen ich darstellte, wer ich eigentlich war. Ich mußte nur glaubhaft den weiterspielen, als der ich anscheinend einmal aufgetreten war, wenn ich auch nicht ganz sicher war, wer das war. Und so machte ich dann weiter, mit der Sicherheit des Auswendiggelernten schwand auch die Erinnerung an früher, daran, daß ich, wie alle Schauspieler, Millionen von Rollen aus tausenden von Stücken probiert hatte, schwand das Wissen, daß es noch andere, unendlich viele andere Rollen gab, bis schließlichÉ 

Falsch, falsch zum Henker, alles falsch! 

Keine Entwicklung, kein brav nachvollziehbares Verwandeln Schritt für Schritt - nur immer absolute Augenblicke, die klotzig ihre Einzigartigkeit behaupten: jetzt gilt, was jetzt ist, ist, was ich jetzt glaube. Die Wahrheit, die alte Hure, hat mich wieder am Nacken und preßt mir ihr Credo quia absurdum ins Ohr, daß das Paukendröhnen dieser irrsinnigen Behauptung alles andere, was noch ist, einfach zerquetscht, es an der Wand zu flachen Abziehbildern zerdrückt. Man sagt, alte Menschen lebten gern in ihren Erinnerungen. Hat der Augenblick seine Macht über sie verloren, läßt er anderes, andere Zeiten neben sich gelten, ist da plötzlich wieder Platz für ein ganzes Menschenleben? Oder sind die Wände so voll mit den plattgewalzten Leichen der Vergangenheit, daß da keine neuen Platz haben, kein einziger Augenblick mehr, der noch in die Sammlung paßte, ohne einen anderen zu verdrängen? 

Erst in der Erinnerung, im Rückblick tauchen da Verbindungen auf zwischen den einzelnen Momenten, entsteht aus den einzelnen Punkten ein Geflecht von Lichtern und huschenden Schatten, aus dem dann hier und dort Worte, Satzfetzen, der Ausdruck auf einem vertrauten Gesicht, der Geruch einer Straße auftauchen, ein Geflecht, das sich über die Zeit erstreckt und sein Aussehen von einem Punkt zum andern verändert. Da liegt einer im Garten, da schläft einer an meinem Tisch: zwei Punkte, zwischen denen sich ein verwirrend feines Netz spannt: Regentropfen glitzern, ich höre ferne Tanzmusik, ein Wind weht durch die Maschen und bringt das Gebilde in leise Schwingungen über einem unergründlichen Abgrund. Ich spüre ihn auf meiner Haut, er umfängt mich mit seiner Abwesenheit, und ich rieche die Luft, die er mit sich trägt - in welchen Tiefen ist er entsprungen, welche Laune hat ihn losgeschickt, diese Düfte zu sammeln, um sie dann mit einem Mal wieder loszuwerden? Welche Räume sind es da, die er durchmißt, bevor er zu mir kommt? Räume, die irgendwo in mir liegen, zweifellos (wirklich?), und deren ich mir nie bewußt werde außer in der Erinnerung, deren Tiefe ich erst spüre, wenn ich mich von ihnen entfernt habeÉ Was soll das? Was soll das ganze Gerede von Erinnerung? Hier sitze ich und erzähle Vergangenes, sitze auf einem Planeten und behaupte alles zu sehen, was auf einem andern passiert - ist das nicht absurd genug? Andererseits: Ist irgend etwas absurd genug, um wirklich zu sein? 

Ich sehe schon, ich entgehe dem Lügen nicht, ob ich es will oder nicht: Was ich sage von den Tagen, von den Menschen, die ich traf, vom Regen und von dieser unserer Stadt - gäbe es nicht viel mehr zu erzählen? Oder anderes? Das Ganze "in einem anderen Licht sehen", sagt man, andere Karten aus dem Stapel ziehen: er bliebe derselbe und wäre gleich gut beschrieben, bloß anders. Und, was mich ein bißchen traurig stimmt: niemand würde es bemerken. Es genügt, daß ich den Stapel zeige, welche Karten ich dazu aufdecke, welche nicht, interessiert nicht, genauso wenig wie die Tatsache, daß ich etwas ganz anderes zeigte, zöge ich andere. Ziehe ich, sagen wir, nur kleine Zahlen aus dem Pack, keine Königinnen mit ihren immerweisen Männern, keine mutigen Prinzen, überhaupt kein adliges Volk, so erwecke ich den Anschein, es gibt sie nicht, und wer immer hinsieht, sieht sich einem proletarischen Haufen gegenüber, der scheinbar hartnäckig seine Satten, Reichen und Mächtigen verleugnet - aus Neid? aus Angst vor ihren Häschern? oder aus Liebe zu den glitzernden Abziehbildern der eigenen, geheimen Gelüste? Aber wüßte dann jemand, daß es sie gibt, daß sie irgendwo Gesicht nach unten im Dunkeln gelassen wurden? Ach ja, eine müßige Frage, ich weiß, ich weiß; ein Pausenfüller. Und doch: Würde jemand gern mehr wissen? Was geschieht an den andern Tischen, wenn an dem einen da die Träume zu leuchten anfangen? Wer hat sich dort zum Gruppenbild niedergelassen, wer zum Porträt? Tasten sich da Hände zaghaft aufeinander zu, berühren sie sich - zum ersten Mal bewußt - unter dem aufmerksamen Blick niedergeschlagener Augen, welche Ängste springen da auf die Tischplatte, tanzen spottend wilde Mazurkas, zieht sich da etwas in den Bäuchen lustvoll schmerzlich zusammen - oder nur in einem? Ergießt sich da, nach einem halben Leben mehr oder weniger gemeinsamen Redens, mit einem Mal das große, das endgültige Schweigen über zwei, die nur für einen Kaffee auf die Schnelle hereingekommen waren? Jetzt sitzen sie schon seit Stunden und wollen es nicht wahrhaben, unfähig, den Ort zu verlassen, an dem sie sich gemeinsam so weit entfernt haben, unfähig, dem Regen draußen entgegenzutreten - ja doch, ja, er verhöhnt sie mit seinem kalten Prasseln draußen vor dem Fenster -, und warten, daß etwas geschieht, warten, daß etwas ungeschehen wird, das sie auseinanderhält und das bleiben wird, wenn sie jetzt gehen. Vielleicht möchten sie, da die Sprache ihnen versagt, auf andere Weise zueinander, ein halbes Leben ist lang, ein halbes Leben schreit da tief in ihnen gegen den Tod an, will hinaus, in den andern hinein, ihn wecken, sucht verzweifelt den Schlüssel für die beiden Türen; vielleicht sehen sie sich immer wieder lange in die Augen, fragend und erklärend zugleich, vielleicht halten sie sich hilflos an den Händen, legen die Finger nur leicht auf die des andern, aus Angst, ihm lästig zu fallen, das Bildes unsicher, das der andere sieht, wenn er sie anschaut. 

Und wer ist die junge Frau dort hinten - nein, nicht die neben der Theke, die dort, allein an dem großen Tisch, auf dem Boden neben ihr eine pralle Reisetasche, die Haare noch naß verklebt vom Regen - sie ist noch nicht lange da, vorhin zumindest war ihr Stuhl noch leer. Sie mag um die dreißig Jahre alt sein - waren es dreißig gute? oder zehn gute, bis der Vater zu saufen anfing, dann zehn grausame, bis er in einer Pfütze Erbrochenem auf dem Küchenboden zuckend verreckte, und dann noch einmal zehn lange, unheimlich lange Jahre, die schön hätten sein können, wenn nicht immer etwas dazwischengekommen wäre, wenn da nicht immer anderes gewesen wäre, das Aufmerksamkeit gefordert hatte - immer das Bild vor ihren Augen, wie er dalag - Blut, viel Blut überall, und mittendrin sein schnappender Mund, seine aufgerissenen Augen -, zehn Jahre, da sie nicht froh sein konnte, weil sie sich in dem einen Moment gefreut hatte, wirklich gefreut, als er endlich still war, daß er nie mehr schreien würde, und jedesmal, wenn sie sich wieder freute, wenn nur ein Anflug von Leichtigkeit sich hinter ihren Augen ankündigte, wieder dieses Bild, wieder das Gefühl, irgendwie mit ihrer Freude schuldig geworden zu sein. Und dann, als sich sein Tod zum zehntenmal jährte, an dem Tag, der ihr neunmal zur Hölle geworden war, sie neunmal hatte wünschen lassen, sie wäre auch tot, da hatte der Regen angefangen. Ob sie verstanden hat? Jedenfalls hat sie da ihre Tasche gepackt, ist aus dem Haus und nicht mehr zurückgegangen. Jetzt sitzt sie hier, sie scheint zu warten (auf einen, auf eine?), und alle Zeit der Welt sitzt da neben ihr auf der Holzbank, hängt über ihr in dem staubigen, vergilbten Lampenschirm, kriecht unter dem Tisch ihre Beine hoch, und sie zuckt zusammen, fröstelnd. 

Vielleicht ist es so, vielleicht nicht, dazwischen, irgendwo im Fühlbaren, Unausgesprochenen schlägt wohl das Herz derer, die nicht mehr glauben können, und leise, sehr leise, fast unhörbar schlägt es an gegen die auf allen Seiten aufgetürmten Wirklichkeiten, die Zustimmung verlangen, blinden Gehorsam. 

Habe ich da einen gesehen, der ihn verweigerte, einen, der nicht für wirklich hielt, was er zu sehen glaubte, der nicht alles andere ausschloß in dem Versuch, seinem Glauben Festigkeit zu geben? Ich fürchte, ich habe ihn vergessen, wenn er mir begegnet ist - seine Gestalt stand zu verschwommen am Wegrand, als ich vorbeikam, vielleicht streckte er noch seine Hand aus, um mich anzuhalten, vielleichtÉ vielleicht lag er auch irgendwo abseits - jedenfalls ist er mir entschwunden, nicht mehr greifbar, ein guter Schatten, von dem nur der Umriß an der Wand kleben bleibt. 

Doch, wer weiß, es wäre möglich, daß alle dieser eine waren, alle die Schemen, die Papier brachten und holten, die an mir vorüberzogen, ohne daß ich etwas gehört hätte, daß sie alle etwas mit sich trugen, geheim, das sie dem Gehorsam entzogen, das sie nie einer kalkulierbaren, nachvollziehbaren Wirklichkeit untergeordnet hätten - es ist sogar wahrscheinlich. Ja, es ist sogar wahrscheinlich, daß alle irgendwie spürten, daß sie einzigartig, großartig waren in ihrer Absonderlichkeit und Schwäche, unverwechselbar ausgestattet mit Eigenschaften, mehr noch mit Gefühlen, die kein anderer hatte; es ist wahrscheinlich, daß alle an einen kleinen Baum gelehnt einer Horde von unbegreiflichen Wesen gegenüberstanden, die mit einer Art von Interesse zu ihnen hersahen, die nicht verriet, ob es wohlwollend oder gefährlich war. Diesen einen kleinen Schritt aus dem Schatten heraus hatten sie getan, diesen winzig kleinen Schritt hin zum Ich, zum Bewußtsein, weg von dem nie geäußerten Gefühl, Teil zu sein eines unauslotbaren Ganzen - und damit unwiederbringlich jede Verbindung zu diesem Ganzen aufgelöst. Was davon geblieben war, das Gefühl, außerhalb zu stehen, getrennt zu sein von etwas, das auch ohne sie weiterbestand, das Wissen, verschieden zu sein von dem Baum, dem Stein, von dem andern Menschen, den sie sahen, schließlich das Bewußtsein der Einsamkeit in einer Welt, die ihnen fremd geworden war und der sie hilflos gegenüberstanden. 

Ob sie wohl Angst hatten? Ob sie wohl hie und da, in den wächsernen Stunden, da die Zeit in ihren Uhren kleben blieb, die große kalte Furcht ansprang - aus einer halb geöffneten Tür heraus, aus den Schatten hinter den sorgsam und hübsch arrangierten Blumen auf dem Tisch vielleicht oder aus dem ungeordneten Haufen nutzlos gewordener Dinge unter den Mänteln in der Garderobe -, ob sie sie packte, ohne daß sie wußten, was es war, das sie lähmte und klein werden ließ, nur diese entsetzliche, schneidende Klarheit, der nichts verborgen blieb und die doch nichts zeigte: ob sie die Stunden kannten? Die Stunden der fetten Fliegen und der Rattenköpfe, da alles wirklicher war als sie selber, da der sinnloseste Handgriff, die müßigste Regung noch eine tiefe, gefährliche Bedeutung hatte? Es mag sein, ich weiß es nicht, aber in ihren Augen habe ich diesen Blick gesehen, dieses Licht, das sie im Schatten des Urwalds noch geblendet hatte, als alle Gefahr gebannt schien, und ich habe gesehen, wie sie versuchten es zu verstecken. Doch nicht alle Augen lassen sich rechtzeitig schließen, nicht jedes Gesicht kann sich schnell genug abwenden, um vor den andern zu verbergen, was sie vor sich selbst geheimhalten, es gibt Blicke, die können ihr eigenes Alter nicht verheimlichen - sie tragen noch die Spuren der Abgründe, über deren Rand sie einmal gesehen haben, der Räume, vor deren Weite sie einmal zurückgeschreckt sind. 

Dann mag dieser Tag vorüber gewesen sein; seltsam: niemand schien bemerkt zu haben, wie er verging. Als die Nacht uns überfiel, stand in viele Gesichter ein Erstaunen geschrieben, das die langen Monate des eintönigen Regenlichtes betrog - wie wenn gerade dieser eine Tag ein besonderer gewesen wäre, einer, der anders hätte sein können, länger. Aber nicht das war bemerkenswert, es hatte schon mehrere diese Abende gegeben, da sich die Dunkelheit ein paar Sekunden verspätet haben mochte, und in diesen paar Sekunden war die Hoffnung, daß es morgen besser würde, daß der Regen aufhören und warme, trockene Tage folgen könnten, so unglaublich heftig aufgebrochen, daß alle mehr über den Schmerz dieser doch noch ersäuften Sehnsucht erschraken, als über die Nacht, die dann mit einem Mal anbrach. Nein, bemerkenswert war vielmehr die Leichtigkeit, mit der sie die Enttäuschung übergingen, und wie schnell ihnen der Rückzug auf den kleinen scheinbar trockenen Platz gelang, auf dem sie reglos wartend ihre Tage in der Hoffnung verbrachten, daß von selber, ohne daß sie etwas dazu tun müßten, irgendetwas geschehen würde, das alles gut werden ließ. Irgend etwas, das alles und besonders sie selber wieder ins rechte Licht des verlorenen Lebens zurückstellen würde - eine Hoffnung, der die Lähmung, in der sie auf ihrem kleinen Flecken Leben festsaßen, Beständigkeit verliehen hatte. Wieviele Pläne wurden da gemacht und dem Tag anvertraut, "wenn es wieder schön ist", oder dem, "wenn ich einmal Zeit habe, wenn ich einmal Geld habe". Doch Morgen kam nie, immer hielt ein Heute den Tag besetzt, das vom Gestern nicht zu unterscheiden war und sich Tag für Tag von dem Punkt zu entfernen schien, der die Zukunft bezeichnete. Es war, als ob jeder müßig versäumte Sonnenauf- und -untergang ein Schritt wäre, der uns weiter auf einem Irrweg im Labyrinth führte und den wir dann später, wollten wir doch noch ans Ziel, in die Mitte gelangen, wieder würden zurückgehen müssen, um den rechten zu finden. Dabei gab es damals schon Gründe genug, anzunehmen, daß gar kein Ziel existierte, sondern daß die unendlich verschachtelten Gänge, durch die wir uns bewegten, ohne über die Mauern hinauszusehen, schon dieses Zentrum und wir schon lange angekommen waren - bloß schien das niemand zu wissen. Und dann hätte das auch alle Versäumnisse, all das fruchtlose Warten auf etwas, das noch kommen sollte, noch viel schlimmer gemacht, nicht wahr? Am Ziel jahrelang das Ankommen versäumen und nie die Früchte jahrelanger mühevoller Wege sehen - welche Vorstellung! 

Und: 

Die Vögel schlafen lange schon, denen wir sehnsüchtig nachgesehen haben, als wir unsere Herzen an ihre Flügel binden wollten - unfrei, gebunden, doch ungehindert, überallhin mitzufliegen. Ja, die Vögel schlafen schon. Und irgendwie wissen wir es, wir hören die Stille, die ihr Flattern und Schnattern zurückgelassen hat, wir spüren die Leere, die hinter ihren Körpern den Himmel bezogen hat, und irgendwie warten wir wohl, hoffen wir dennoch, daß sie sich wieder erheben mit einem großen Sturm; je länger wir warten, desto ungeheurer muß er sein, um alles wegzufegen, was uns in der Leere erdrückt. In besonders verwegenen, verzweifelten Augenblicken meinen wir schon das Grollen zu hören, mit dem er die Stille zerschlägt, in die wir nach und nach, wie ohne es zu merken, abgerutscht sind - doch das Grollen ist fern, zu fern noch, um aus uns hinauszudröhnen, und so genau hören wir hin, so erschreckt und erregt geben wir uns dem Beben hin, das die Mauern unseres Kerkers sprengen soll, daß wir nicht bemerken, wie wir es langsam einschläfern, seiner Urgewalt nach und nach die Kraft aussaugen mit unserem müden, ängstlichen Warten. Und wenn wir dann spüren, wie es erstirbt, die Erregung in unserer Brust zusammenschrumpft, zu einem lächerlichen Quaken erstickt, dann müssen wir wieder an den Sturm denken, den es hätte begleiten sollen, und wir wünschen ihn uns wieder ein Stück größer, gewaltiger, vernichtender diesmal, daß er alles wegfegen kann, schließlich auch unser Zögern, uns selbst mitreißt, die wir schon nur mehr kriechen zu können glauben unter dem unheimlichen Druck - dem unheimlichen Druck, der nirgendwo zu sehen ist und doch aus jedem Blick, jeder Hausecke, jedem zurückgewiesenen Wort auf uns niederstürzt, Felsen, die einer uralten Bindung gehorchend den Schößling unter sich begraben, zermalmen, ohne je von ihm gewußt zu haben. 

Und unter ihnen liegen wir unser Leben aus, verbringen wir die Jahre, von denen wir einmal gemeint hatten, wir würden sie mit dem Vögeln, mit dem Wind teilen, verbringen sie mit Warten auf dieses ferne Geräusch, das Schlagen und Rauschen der Luft, von dem wir nicht weniger und nicht mehr erwarten, als daß es uns wieder zu uns selber, ans Licht zurückbringt - befreit und wieder aufstehen läßt. 

Was sagst du, Helena, die Menschen sind nicht so? Sie wollen leben, sie wollen sich spüren? Ich habe die Wahrheit nicht für mich allein, sagst du - wie recht du hast, wie recht! Ich habe sie gar nicht, gar nicht, keine ihrer leicht bezahlbaren Wohltaten wird mir zuteil, sie schenkt mir nicht die Gnade, die sie den andern so willig gibt: die Zufriedenheit. So billig sie auch zu haben ist, sie bedient nicht jeden. Nur wer an sie glaubt, bedingungslos an sie glaubt, darf sie nehmen, darf sich von ihr mit der alten, buntschillernden Decke zudecken lassen. 

Jaja doch, sie leben, sie spüren - auch den dünnen Stamm in ihrem Rücken - sie sind nicht so. Du magst sie nicht als Opfer begreifen, wenn sie mit Täterbeinen durch ihr Täterleben trampeln und mit Täterblicken schwere Tonnen abladen auf denen, die sie doch nicht sehen können - ich verstehe das. Jaja doch, sie sind wirklich so, und sie wollen es sein, das macht sie so erdrückend, wirklich, ich verstehe das. Aber hast du auch die Angst gesehen, mit der sie nach neuer Bestätigung, Beschäftigung, nach neuer Erfüllung Ausschau halten, wenn, was sie leben, was sie spüren, ihnen dünn und fädig wird, in einem nicht zu Ende gesprochenen Satz, an einem harten verregneten Dienstagnachmittag, wenn sie stolpern und der Länge nach hinfallen, Gesicht voraus auf sich selbst prallen? Jaja doch, sie gehen, sie bewegen sich doch. Wirklich: sie gehen, sie laufen, sie hetzen, getrieben von, sagen wir, irgendwas, das sie nicht sehen wollen, nach dem sie sich nicht umsehen wollen, wenn sie seinen Atem schon im Nacken spüren, und nur immer schneller, schneller rennen - ja doch, es sieht fröhlich aus, lebendig, wie sie so laufen, wie sie springen, wie sie mit immer neuer Kraft immer neue Hürden nehmen, immer neue Felder entdecken, über die sie dann stürmen, vorwärtsstürzen; ja doch, es sieht aus, als wollten sie das. Du hast schon recht, Helena, sie tun schon, was sie tun, es wird nicht von irgendwem getan - aber hast du sie einmal still gesehen, wenn sie meinten, ausruhen zu können? Hast du die Lasten gesehen, die sie da zur Seite schieben mußten, bevor sie ihr Gesicht ans Licht halten konnten, hast du sie schlafen gesehen? Ja doch, es sieht friedlich aus, wie sie so ruhig daliegen und -sitzen, wie sie aller Eile ledig sich nicht mehr bewegen müssen, wollen, um nicht den Druck zu spüren, um nicht mit jeder Regung gegen den Fels zu reiben und schmerzlich zu bemerken, wie aussichtslos es ist. 

Ja, es stimmt: Ich habe keine Wahrheit. 

Wie oft haben wir sie uns ins Zimmer, an den nächtlichen Tisch geholt, die Menschen: Du hast sie, aus Verachtung, stark und selbständig gemacht, wolltest sie büßen lassen für ihre Grobheit und Dummheit, wie man nur büßen lassen kann, wer für sich selbst verantwortlich ist; ich ließ sie, aus Mitleid, aus heimlicher Zuneigung, schwach und elend werden, um sie vor zu großer Härte zu schützen - mir war, als hätte ich doch Wärme in ihnen gesehen und vielleicht einen Funken Menschlichkeit, doch ich kann mich täuschen. Wie oft hast du mir abgesprochen, daß mir am Leben gelegen sei, und mich einen Propheten des Elends genannt, einen, der das Schlechte sucht, überall, um sich vor dem Guten zu drücken? Ursache und Wirkung, Helena, die sich gegenseitig überlagern, überschneiden, Herz und Hand, wie vielleicht früher einmal jemand gesagt hätte, Innenwelten, geheime, absolute, und Außenwelten, vernetzte, meßbare, seh- und hörbare - wo sind die Augen, die nicht für das eine blind sind, die perspektivisch tiefer beides sehen? Verdammt, Helena, haben wir uns nie gehört dazwischen? Haben die Spiegel, durch die wir meinen, nach außen zu sehen, uns doch nicht mehr gezeigt als immer nur uns selber, waren unsere Maulwurfsschächte zu eng, das Licht an ihrem Ende zu schwach, den andern zu sehen? Ja doch, jetzt, da auch dieser Tag zu Ende war und ich dich suchen wollte, wurde mir klar, daß ich gar nicht wußte, wen ich suchen sollte: Oh, gewiß, Name, Aussehen, besondere Merkmale und Steuernummer, Bankkonto und Vorlieben beim Essen kannte ich wohl - bloß was sagten sie aus? Namen, Wörter und Zahlen gehören doch jedem, der sich ihrer bedient, sind angeschaffte oder aufgelegte Artikel aus einem beliebigen Sortiment, anonyme Massenware aus den uralten, von Jahrhundert zu Jahrhundert weitergegebenen Lagern einer Ordnung, die einzig auf ihrer Exklusivität fußt, darauf, daß alle, ausnahmslos, sich bei ihr bedienen, sich bei ihr registrieren lassen. Treue Kunden eines alteingesessenen Geschäfts, eines unergründlich gutmütigen und korrekten Verkäufers, Freund des Elternhauses, Lehrer der Nichte - ein unverdächtiger, immer mit schöner Regelmäßigkeit auftauchender Bekannter, und wenn es derselbe ist, der schon bei den Urgroßeltern und auch bei deren Urgroßeltern regelmäßig auftauchte, ist es der, den alle aus ihrer frühesten Kindheit kennen. Händler einer immer gleichen Ware, und nie leert sich sein Lager, nur der Preis schwankt über die Generationen: die Ordnung ist beileibe nicht billig, sie wird bezahlt mit Blut oder mit Tränen, mit Stunden, die der Schlaf dem Leben stiehlt. Dein Name, Helena, der Name deiner Mutter, hilft mir jetzt nicht (und den deines Vaters kennt keiner, er ist der große Unbekannte in den Familiengeschichten deines sizilianischen Dorfes, ein Schweiger aus dem Norden, sagen sie, einer, dem sein Italienisch stockend von den Lippen ging, sagen sie, ein schöner Mann, der aus lauter Ehrfurcht vor ihr und ihrem Mädchenkörper alles richtig machte, sagt deine Mutter, einer, der nicht wußte, wie man eine Frau liebt und es trotzdem tat wie kein zweiter, sagt sie - und wenn er nicht plötzlich verschwunden wäre, von der Fahrt in das verdammte Palermo zurückgekommen wäreÉ, wer weiß, was ihm geschehen ist, weder Polizei noch Freunde konnten ihn ausfindig machen, auch nicht der liebenswürdige alte Freund der Familie, der sonst immer alles wußte, wundersamerweise überall Zugang hatte, alles fand, sagt sie, da sieht man wieder, wozu Polizei und Freunde taugen, wenn man sie braucht, sagt deine alte Mutter -, wenn sie noch ein paar Jahre mit ihm hätte leben können, ein paar Jahre, und sei es auch in Armut gewesen, würde sie jetzt zufriedener alt werden, sagt sie), dein Name, den schon einmal eine schöne Flüchtige getragen hat, bringt mich nicht weiter. Ich habe keine Flotte, die ich dir nachschicken könnte (wohin auch?), und die zerquetschten Polizistengesichter auf dem Posten lassen keinen Agamemnon vermuten - schon eher den Schlächter Achilles. Und doch wären die wohl erfolgreicher gewesen als ich: daß die Maschinerie funktionierte - erprobt in unzähligen Durchgängen an unzähligen Beobachteten, Verfolgten, Aufgespürten und einer höheren Ordnung, einer schützenden oder schlagenden Hand Zugeführten -, daß sie nichts von ihrer Wirksamkeit verloren hatte, war klar: im Gegenteil. Sie funktionierte besser als je zuvor, ihre aufgefeilten, technisch beeindruckenden Methoden waren der Stolz einer ganzen Generation von Polizeipräsidenten, ihr immer dichter werdendes Netz von Dateien, Karteien, Online- und sonstigen Verbindungen ließ zum ersten Mal keine Lücke mehr offen, zum ersten Mal war es möglich, jeden - fast jeden - zu finden, egal, wo er gerade sein mochte. Was blieb, war ein kleiner, geheimer Platz, an dem nur Zutritt hatte, wer die Augen schloß, ein gut versteckter, ummauerter Zufluchtsort, mit dem Nötigsten ausgestattet, um ein längeres Exil zu überstehen: der Ort, an dem die Menschen keine Schatten mehr auf ihre Träume warfen. 

Und? 

Und es war eng geworden, die Orte, die den Menschen ein freieres Atmen versprachen, lagen in den Hochglanzbroschüren gestapelt (Fragte sich jemand, warum Jahr für Jahr mehr das Gefühl hatten, flüchten zu müssen, warum die, die das Geld dazu nicht hatten, aus den Fenster ihrer Hochhäuser sprangen, warum andere, von einem vierten Glas, einem lauten Wort endlich ihrer Fesseln befreit, in den Straßen einen Schwächeren fanden und auf ihn einschlugen, bis sein Blut wunderbar bunt und wild und unordentlich herumspritzte, bis sein Stöhnen und Schreien, immer noch das gleiche wie seit Jahrmillionen, das große Dröhnen aus ihren Ohren verdrängte, wenigstens für einen Augenblick, solange es noch Kraft und Leben zum Schreien hatte? Ja doch, ja, sie fragten sich, und der eine oder andere mag auch hier eine Antwort ersonnen haben, den einen oder anderen mag eine Ahnung gepackt haben, eine dunkle Ahnung, da er hilflos das Blitzen in ihren Augen sah: dasselbe Blitzen, derselbe dunkle Schimmer, der aus den Augen einiger Affen aus einer Horde funkelte; stumm standen sie herum und starrten auf eine schmächtige Gestalt, die in ein eigenartiges Licht getaucht an einen dürren Baum gelehnt stand. Ja doch, einige mögen die Faust gespürt haben, die sich da hinter dem Rücken ballte, und sie mögen zusammengezuckt sein, als sie sahen, wie die haarige, blutverkrustete Haut der Knöchel unter der Dreckschicht heller wurde als der Rest, fast weiß. Sie mögen die zusammengekniffenen, eng beieinanderstehenden Augen unter den buschigen Brauen gesehen haben. Und da mögen sie auf die Soldaten gehofft haben, die sich mit ihren Äxten und Spießen zwischen den Schlafbäumen und der Grube mit den faulenden Knochen herumdrückten, um allen Unmut mit ein paar gezielten Schlägen in der Dunkelheit zu beenden, bevor er laut wurde. Und sie mögen das Blut gesehen haben, das zwischen den fetten grünen Blättern seltsam bunt versickerte, auf denen wild und in einer seltsamen Ordnung dicke rote Tropfen klebten.) - die Sehnsucht aber hauste immer noch bei den Menschen, sie hatte ihr Lager unter ihnen noch nicht abgebrochen. 
 
 
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Ja, es war eng geworden, und keiner wußte so recht, wo er sich hinwenden sollte - es schien überall gleich zu sein; kein noch so entlegener Flecken versprach grundlegende Veränderung, die Menschen waren sich überall sehr ähnlich ... Du widersprichst, Helena? Willst nicht die müde Gleichmacherei gelten lassen, die den einen schmeichelt, andere beleidigt - schlimmer noch, die den einen nützt, die andern ausnützt, vergewaltigt? Draußen fällt der Regen, immer gleich, immer ewig, und flüstert mir seine Zustimmung durchs Fenster: Das grausam verstümmelte Mädchen im Sudan, der erschlagene Schwule in Miami, der krank bis zum Herzinfarkt geschundene Schweizer Soldat, die in einer Unterführung zu Tode getretenen Penner, die mit Gewehrsalven aufgeschlitzten bettelnden Straßenkinder, die in den Straßen Neapels abgeschlachteten Frauen, Kinder und Onkel irgendeinens reumütigen Verbrechers (selbst ein Mörder, Bombenleger?), die mit Stromstößen verbrannten Hirne chinesischer Träumer (man nennt sie "Dissidenten", die "nicht Zustimmenden") - was könnten sie schon gemeinsam haben, worin sollten sie sich ähneln? Was könnte ihren Schmerz, ihre panischen Blicke zu denen der andern machen, derer, die wegsehen?  

Ja doch: der Regen, der ihre Leben, das, was sie - oder waren es ihre Mütter, ihre müden blassen Väter? - was sie sich erhofft, erträumt hatten, wegspült, unwiederbringlich, und nach und nach, je mehr gleichgültige Schritte vorbeigehen, jede Spur von ihnen auslöscht - jeder Schritt ein Tropfen mehr in den Abfluß des Vergessens, aus dem sie ein kurzer Augenblick des Glücks, lange durchwachte Nächte des Hoffens, ins Leben gezogen hatte: fiebernde Augen, tief, tief aus schweißnassen Kissen, über Nacht weggenommenes Spielzeug, Tränen, unglaublich schmerzvolle Tränen, dann ein vollkommenes Lachen beim Anblick der Sonne auf den feuchten breiten Blättern im Garten - alles vergebens, alles belanglos mit einem einzigen gezielten Schlag - und wunderbar ungeordnet und wild rinnt der Regen durch die Straßen zwischen den bunten Häusern, dorthin, wo die Menschen einen Abfluß für ihn gebaut haben - ob sie wußten? -, dorthin, wo das Licht immer zu spät kommt. 

Ja, der Regen fällt über sie alle, hüllt letzte, brechende Blicke in einen Mantel zusammen mit den anderen, die sich woanders hin wenden, der Regen kommt ungefragt und kühlt die Wunden, die nicht mehr schmerzen können, er tut die letzte Wohltat: er wäscht den Staub von den Gesichtern, die so eigentümlich ruhig und kraftlos an den Schädeln kleben, als hätten sie vergessen, rechtzeitig das Weite zu suchen, vielleicht in der blöden Hoffnung, daß sie doch noch etwas ausrichten, etwas ausdrücken könnten, das endlich, endlich dem Leben gerecht würde, das sich so lange hinter ihnen verborgen hatte. Welche Pinselstriche fehlten noch in dem Gemälde? Was hätte nicht noch hier ergänzt, was dort übermalt werden müssen! Gewaltig und unerlöst schwebte die Symphonie in der Luft - was?! Symphonien! Unendlich viele, zarte und harte, wassergurgelnde und feuerspeiende Welten, Tage, Augenblicke und Gefühle! - wo war der Ton, das punktierte Sechzehntel eines Bogenstrichs, das diese Musik zu Ende geführt, das dieser verzweifelt glücklichen Harmonie den letzten Akkord geschenkt hätte? - Ich wäre glücklicher gestorben - Wo blieb in diesem letzten Zucken Raum, all das zu Ende zu führen, was ohne Ende den Anfang nicht wert gewesen wäre?  

Ich weiß, Helena, das geht nur den einen an, der da liegt, aus welchem Grund auch immer, die anderen wissen nichts davon, sie gehen früher oder später getröstet darüber hinweg - richtig. Noch wissen sie nichts davon. Solange sie sicher sind, daß, wenn der eine verklungen ist, der nächste Tanz beginnen wird, solange können ihnen die Pausen, die atemlosen Stillen dazwischen nichts anhaben, solange sehen sie den, der den Tanzboden verläßt - ermüdet oder von den besoffenen Burschen des Nachbardorfs hinausgeprügelt -, nicht und wollen auch nichts von ihm wissen: ihr Tanz ist ein anderer. Erst wenn sie selbst dort draußen, am Rand, an der Grenze der Stille sind, werden sie sich seiner erinnern, werden den Ausdruck seiner Augen verstehen, der ihnen einmal zwischen Trauer und Zufriedenheit zu schwanken schien, früher einmal, als die Tanzfläche noch voll war, als noch jede Polka Applaus und den nächsten Walzer selbstverständlich nach sich zog. Früher, ja früher, als sie im Rausch der Musik, im Lärm der lachenden Tänzer das Rauschen des Regens draußen noch nicht gehört hatten, noch nichts vor der blauen Kälte gewußt hatten, mit der er durch die Fenster hereingriff in die Wärme, unter leichten durchsichtigen Stoffen über erhitzte Haut leckte und sich bei denen bemerkbar machte, die außen, am Rand, immer langsamer ihre Runden drehten - besonders dann, wenn man die Fenster nicht gut verschlossen hatte, besonders dann: dann war es am schlimmsten. 

Es stimmt schon: Sie drehen sich weiter, und es ist gut so. Kein Himmel hält den Atem an, aus den ungeheuren sich auftürmenden Wolken bricht nicht plötzlich ein Lichtstrahl hervor, und es regnet weder Gerechtigkeit noch Vergeltung auf die geschundene Erde - nur eine einzige winzige Zelle gefriert zu Feuer: nur eine. Und in ihr ist alles enthalten: alle Sonnenaufgänge und alle Wunden, alle Küsse (die mit Verlangen und die widerwillig gegebenen) und alle auf der Straße in die Dämmerung gesungenen Nächte, all die unwahrscheinlichen Blitze, die, kurz nur, kurz, das Dunkel erleuchteten, und alle Gesichter, alle Felder und Höhlen, die, kurz nur, in dem grellen fahlen Licht auftauchten - besonders die unendlich weiten Felder, ja, die kein Ende und keinen Anfang zu haben schienen, über die Licht und Schatten nur hingestreut lagen, während ein sanfter Wind über sie wegraste, heiß und kalt zugleich, staubig und erfüllt von schweren, vollen Düften, schrill pfeifend ein sanftes Murmeln vor sich herschob -, jede grausam ausgespielte Stärke, jede Schwäche, die ein anderer (dieser eine, so lange gesucht und dann endlich, endlich gefunden, beinahe wieder vergessen) nicht ausgenützt hatte - alles. Alles belanglos und alles in einem einzigen Augenblick zu einer lodernden Eisflamme erstarrt, einem winzigen, unsichtbaren Kristall zwischen heute und morgen, und fällt heute Regen, wird er morgen nicht mehr dort sein, wird der Platz, an dem er einen Augenblick lang noch weiterzuglänzen schien, leer sein, ein Stück Raum und Zeit wie andere auch, ein Name vielleicht in der Erinnerung, ein verblassendes, gefälschtes Bild, und nirgends, nirgends, wo ihn noch jemand suchen könnte - alles, nichtsÉ und was noch? Die Liebe, Helena?? Die Wärme eines Blicks, die spröde Zartheit einer Hand an der Wange? Verstehst du die Chinesen, wenn sie eine Lotosblüte beschreiben, die auf einem schwarzen Felsen verwelkt, und doch von nichts anderem reden als von der Liebe? Oder hörst du die Lieder der Fischer allein in ihren Booten auf dem schwarzen, schwarzen Meer, wenn der Mond in Flammen steht und die Lichter der Häuser an Land verlöschen? 

Hörst du mein Lied? 

Hörst du die Stimme des Vogels über dem schweren glatten Wasser? Ungerührt in dunkler Ruhe läßt er sich nicht fragen. 

Hexametrisch geronnene Wörter, rhythmisch an- und übereinander gelegte Farben, Formen, die Melodie eines Gedankens: diese Musik kennen wir alle, ihren Takt nennen wir Leben, und das Maß, in dem wir sie halten, kennen nur wir. Interferierende Schwingungen, einander auslöschende oder ins Unerträgliche steigernde Amplituden: Haß. Die Welt: ein physikalisches Konzert. Ein blindlings den Naturgesetzen gehorchender Schwingungsknoten. 

Und? 

Und nichts. Kein "und" führt weiter, kein wohlmeinendes Bindewort deckt gnädig den Abgrund zu, aus dem heraus uns dumpf und monoton das "alles ist stofflich" entgegenschwimmt, keine Hormone, keine Schwannsche Scheidezelle und kein Axiomhügel gibt uns die samtene Sicherheit zurück, mit der wir die erste Liebe ein Naturereignis sein ließen, die uns sagt, daß wir selbst es sind, die aus unseren Augen hinaussehen, und daß das, was wir sehen, mehr ist als aberwitzig hüpfende Atomteilchen auf ihrer gegenwärtig wahrscheinlichsten Hybridschleife um einen instabilen Kern. Was macht da noch den Unterschied aus zwischen dir und mir? Wo liegt das Besondere, Unverwechselbare, das den einen zum Täter macht, den andern zum Opfer, was überhaupt unterscheidet sie voneinander? Ionen, Protonen, Anionen, Neutronen in Aufenthaltswahrscheinlichkeiten - die des einen sind von denen des andern nicht zu trennen, mehr noch, sie sind vollkommen gleich. Der Stahl ist nur eine andere Erscheinungsform des weichen Fleisches, in das er dringt, das zuckende spritzende Blut fließt auch in dem Auge, unter dessen reglosem Blick sein Strom langsam, stoßweise versiegt. 

Deine Meinung, mein Erstaunen darüber - nichts als ein kurzes lineares Aufblitzen von Funkensprüngen zwischen benachbarten Zellen: An diesem Abgrund redet niemand mehr von Persönlichkeit; was einer sieht und ein anderer empfindet, ist hier nicht von Bedeutung, es verliert sich, verweht von dem kalten Wind, der von unten heraufzieht, irgendwie in der unendlichen Weite zwischen den Atomen, zwischen den wahllos gestreuten Staubkörnern dieser unserer gesegneten Stofflichkeit.  

Und kein Wort, kein Geräusch. Und keine Bewegung. Keine Wärme und keine Kälte. Kein Sinn, keine Zeit und keine Absicht. Nur unvermeidbare, begrenzte An- und Abwesenheiten in einer unermeßlichen, unendlichen Kurve, Punkte in der Aschenbahn, die kein Läufer je betritt, irgendwo im Nichts umsonst auf Zuschauer wartend. Bloß: Sonnenstrahlen, die aus dichten Wolkendecken Farben brechen, das Erblühen einer Rose zwischen kargen Felsen haben hier keinen Platz. Die Welten, denen sie entstammen, finden sich nicht in diesem Himmel: in dieser umfassenden Schwärze ersaufen sie einfach, zu leicht, zu klein, wie riesenhaft sie auch sein mögen. 

(Keine Angst Vogel, dein stiller Ruf ist noch nicht verklungen.) 

Nein, wir erschauern noch bei seinem Klagen, das uns von irgendwoher überall findet, das überall, in jeder Ritze, in jedem Anblick hocken und auf uns lauern kann - eine weggeworfene Uhr für den einen, für den andern das Licht das Nachmittags zwischen den alten Häusern der Stadt, und plötzlich spürt er etwas, einen Klang, einen Luftzug, und erstarrt. 

Nichts weiter. 

Er erstarrt, an irgendeinem Ort zu irgendeiner Zeit angefallen - von einer Ahnung vielleicht -, und es ist nicht von Bedeutung. 

Irgend etwas hält den Atem an - wie lange? -, irgendwo ein leichter Stich, vielleicht im Herzen, vielleicht im Kopf, ein kurzes Innehalten nur, doch genug, um den trägen Schritt aus dem Takt zu bringen, das berühmte Sechzehntel, das der Bläser zu früh einsetzt, mitten hinein in die gespannte Stille, der Ton, der die andern lähmt, die die Lunge schon gedehnt, den Bogen zum äußersten Punkt zurückgezogen regungslos warten: Warten auf den einen, fixen Zeitpunkt im Universum, den Einsatz, der in ihren Ohren klar und deutlich liegt und der jetzt, vorweggenommen, nicht mehr kommt. 

Ein sechzehntel Regentanz, das an einer Gartenmauer vorbeiführt, ein sechzehntel Lebenstanz, auf dessen Bogen ein giftiger Pfeil liegt. Ein Sechzehntel Zeit nur, Helena, das sich zwischen uns geschoben hat - du, ja, wahrscheinlich warst du es, hast den Schritt getan, den verfrühten, teuflisch schnellen Einsatz, und bist aus meiner Zeit, aus meinem Blick verschwunden. Du lebst jetzt ein Sechzehntel weiter in der Zukunft, einen punktierten Stolperschritt, den ich zu langsam war, und ich kann dich nicht mehr sehen, auch wenn du hier im Zimmer wärst. Ein Stolperschritt, eine kurze sechzehntel Unachtsamkeit war genug, dich aus den Augen zu verlieren - ich bleibe stehen, verwirrt, richtungslos, und horche in die Stille hinaus, die da draußen, ein unendliches Feld weiter, hockt - als ob du da draußen wärst! Was bloß ist es, das mir sagt, daß du nicht dort zu finden bist, wo mich meine Füße hintragen könnten, daß Namen und Fahndungsbilder dich nicht erreichen würden in deiner sechzehntel Zukunft? Ja: Es könnte der Regen sein, das große nasse Tier dort draußen, wie er gegen die Wände, gegen die Fenster murmelt, dabei mehr verschluckt als er wirklich sagt, der Regen, der lügt, der Regen, der nie das ist, was er scheint, das Abziehbild meiner Gedanken, während ich hinaussehe, ein verschwommenes bärtiges Gesicht, das unverwandt hereinsieht: uralt und ewig jung, uralt und unendlich neugierig blitzen seine Augen über der breiten Nase, seine langen Haare kleben naß an Stirn und Wangen: ja. Er könnte es mir gesagt haben, und mir wäre wohler, wenn ich wüßte, warum ich ihm geglaubt habe. 

Und trotzdem steht die große Frage draußen im Regen und wartet geduldig auf einen, der sie hereinläßt, der sie wärmen kommt.  

Ich bin stehengeblieben, eine sechzehntel Sekunde deiner Zeit hinterhergestolpert in einem Wort, einem zu spät erwiderten Blick, ich binÉ bin ich? Oder warst du es, die diesen Bruchteil zu schnell irgendwo sein wollte, die eine zweite Aufnahme in der gleichen Stellung nicht ertragen hätte, die lieber weiterging, als auf die Vollendung des einen Augenblicks zu warten? 

Du antwortest nicht, natürlich, und draußen vor dem Fenster steht etwas, das unverwandt hereinsieht. 

Weißt du, ich habe das Gefühl, daß du mir überhaupt nie geantwortet hast. Versteh mich richtig, nicht, daß du nichts gesagt hättest, aber der, dem du geantwortet hast, das war nicht ich. Das war ein Abziehbild, eine Maske, die du mir aufgesetzt hast, vielleicht als ich schlief, als ich weg war. Ich weiß es nicht mehr: War da nicht ein Morgen, da ich aufwachte und du nicht mehr neben mir lagst? Ich glaube, ich spürte etwas wie eine schwere Last, ein riesiges Gewicht, als ob ich zwei Körper statt nur meinen tragen müßte, an diesem Morgen. Du hattest nicht schlafen können, nicht wahr, und in den langen wachen Stunden hast du mich angeschaut, wie ich in einen unruhigen Schlaf verstrickt meine Betthälfte füllte. Deine Augen haben geschmerzt vor Müdigkeit, dein Mund blieb auch nach dem zweiten Glas Wasser trocken, und der Staub, der auf deiner Stirn lag, war hart, so hart. Da hast du mich angesehen: hast mein weiches, schläfriges Gesicht gesehen, die Rundung, die unter meinem Kinn zu schwellen begonnen hatte, vielleicht hast du auch die dunklen verstreuten Borsten gesehen, die meine Faulheit dort stehengelassen hatte. Und als du meine Haare gesehen hast, die ein beklemmender Traum auf meine Stirn geklebt hatte, als du den schweren süßen Duft des Weins gerochen hast, den wir zusammen getrunken hatten - hast du da an deinen sizilianischen Onkel denken müssen? Du hast oft von ihm erzählt, wie er schwitzend, fett und mißmutig in eurem Wohnzimmer saß, wie ihm der Bauch beim Sitzen das Hemd aus der Hose drückte und verklebte schwarze Haare freigab. Du hast von deiner Mutter erzählt, die ihm, jedes Mal, wenn er kam, wortlos die volle Weinflasche hinstellte und sie wenig später leer wieder forttrug, ebenso wortlos, und eine neue holte. Du hast erzählt, wie er dich zu sich rief und seine feuchte, warme Hand auf deinen Nacken legte, wie sie dort kleben blieb, während er dich über Sachen ausfragte, die du ihm nicht erzählen wolltest, und wie du dich sofort waschen gingst, sobald sich der erste Vorwand bot, das Zimmer zu verlassen, und du hast erzählt, wie du immer freundlich zu ihm sein mußtest, weil er die Miete bezahlte, und bei der Miete ließ der Don nicht mit sich scherzen. 

War es so? 

Und da hast du ihn dir wieder hergeholt aus seinem trockenen sizilianischen Herzinfarktgrab, herausgezerrt und hast ihn auf mir abgeladen, den stinkenden fetten Leib, und er begrub mich unter sich. Langsam ist sein Fleisch heruntergesunken, in mich hineingesunken, hat mich einfach in seine geblähte speckige Hülle hineingesogen, bis nichts mehr von mir übrig war. Und als du aus der Küche zurückkamst, bin ich er dann dagelegen, meine traumfeuchten Haare klebten an seinem aufgedunsenen Schädel, unter meinem Kinn wölbte sich ein praller weicher Sack, und es war der ewig gleiche trockene Wein aus Agrigent, den du gerochen hast, nicht der erfrischend süße Lambrusco, von dem noch ein paar Flaschen in unserem Leben hätten liegen sollen. 

War es so? Und bist du zusammengefahren, als meine Hand im Schlaf - nicht deinen Nacken - sagen wir: deinen Arm suchte und warm darauf liegenblieb? 

Vielleicht sind solche Fragen nicht zu beantworten oder bedürfen nicht einer Antwort - was zählt, ist das Ergebnis, ist das, was einer dann letztlich für wirklich hält, das, worauf er reagieren wirdÉ vielleicht. 

Und da begann dich zu ekeln, leise, unaufhaltsam hat sich der Ekel in deinen Mund geschoben, kroch den Rachen hinunter, und du konntest nichts dagegen tunÉ wolltest nichts dagegen tun: das Gefühl war zu stark und zu echt nach all den von Unsicherheit verfälschten Zuneigungen, zu überwältigend sein schleimig feuchter Griff. Da bist du atemlos neben mir in einer Stille gelegen, die in deinen Ohren mit einer Orgie von Schmatzen, Grunzen, Gurgeln, Röcheln und Stöhnen erfüllt war, und hast den Ekel genossen; genossen, bis er anfing schal zu schmecken und sein feuchter Schleim auf deiner Haut erkaltete. Da bist du aus dem Bett gesprungen und ins Bad gelaufen, aber kein Wasser konnte dieses schmutzige Gefühl abwaschen, das an dir klebte, und da bist du nicht mehr zurück ins Bett gegangen. Die letzten Stunden der Nacht hast du in der Küche gesessen, auf einem Stuhl, die Knie angezogen bis zum Kinn, dann zwischen Fenster und Tür auf und ab gehend. Ein Glas Wasser um 4.21 Uhr, dann zwei Zigaretten (hastig), Wein um 4.39 Uhr, sauer. 

War es so? 

Und mein fettes sizilianisches Schnarchen mag aus dem Bett zu dir gekrochen sein und dir ziehend stoßend den Magen zusammengepreßt haben. 

Vielleicht bin ich dann, als ich aufgewacht war, müde und verquollen von dem gefährlichen Schlaf in die Küche gestolpert, mürrisch, wortkarg - weißt du, ich fühle mich so seltsam, so unheimlich schwer heute - und habe kaum bemerkt, wie du jedes Mal, wenn ich dir nahe kam, weggerückt bist, eine Bewegung, einen Schritt zurück gemacht hast, um jeder Berührung zuvorkommen zu können. Du hast gesagt, es ist nichts, du bist müde, und ich habe dir geglaubt, hatte an mir selbst genug zu tragen - zuerst. 

Bis ich die Kälte spürte. 

Es mag ein warmer, freundlicher Sommermorgen gewesen sein, ein Morgen, dessen trockenes Licht schon ein Versprechen trug, eines, das auf Licht und Wärme hinwies, als ich zum ersten Mal die Kälte spürte. Kein Blick, kein Wort, es wäre alles falsch gewesen. Irgend etwas zog sich in mir zusammen, eine scharfe Angst krallte sich plötzlich in meine Schulter, ein kalter räudiger Vogel mit stechenden, blutunterlaufenen Augen, unter denen ein verkrüppelter Schnabel steckte. 

Du hast gesagt, es ist nichts, du bist nur müde, und der Vogel begann mir mit seinem stumpfen Schnabel die Haut vom Hals zu reißen. Du hast ihm dabei regungslos zugesehen, in deinen Augen Abscheu, ein Falknerhandschuh an deiner Hand, und hast gesagt, daß nichts ist. Ich weiß nicht mehr, ob zu deinen Füßen Blumen lagen und ob du versucht hast zu lächeln. Aber ich weiß noch, das irgendwann die Mauer dastand, die spiegelnd kalte Mauer; und hinter ihr ging irgend etwas vor, etwas, das jederzeit zähnefletschend ausbrechen, etwas, auf das ich keinen Einfluß mehr nehmen konnte; auf und ab ging es hinter der Mauer, und wo immer es war, strahlte die Kälte nach außen durch, ein scharfer, stechender Geruch von Blut und Metall. Verletzungen, Kampf, geschundenes, aufgerissenes Fleisch, ein erstickter Schrei noch, letztlich einsames Verenden hinter Blicken, die sich Neuem, Anderem zugewandt haben. 

Es ist nichts, hast du gesagt, und ich habe gedacht, daß du es sagen würdest, wenn da etwas wäre, es ist nichts, hast du gesagt, und ich habe gespürt, daß da etwas ist. Das kleine verletzliche Tier wagt sich selten ans Licht, da es keine Augen hat. Draußen wie drinnen kann es sich nur nach seinen Ohren, seiner Nase und seinem Tastsinn richten, die Dunkelheit, in der es sich bewegt, ist warm und weich und voll von Gerüchen, Geräuschen und einem fein gesponnenen Netz von Kanten, Ecken, Unebenheiten, Luftzügen, Temperaturunterschieden und den stummen Zeichen, Andeutungen, die nirgendwoher zu kommen scheinen, aber umso deutlicher zu lesen sind. In dieser Dunkelheit lebt es, macht es seine Streifzüge, hier fühlt es sich geborgen. Aber heute findet es keine Ruhe in seinem Bau, wie es auch den Einstieg sichern mag, heute hat es etwas gefunden, draußen, etwas getroffen, das es verfolgt hat bis hierher, bis in den sicheren Zufluchtsort tief unter der Erde. Etwas Stilles, Großes, das noch nie vorher dort gewesen war. Irgendwo zwischen dem raschelnden duftenden Laub vor dem Höhlenausgang und der Wärme, mit der die Strahlen der ersten Morgensonne den Pelz füllten, war es an ihm vorbeigekommen, kalt und unheimlich hatte es die Stelle an seiner Linken gespürt: eine Stelle, die keinen Geruch hatte, die kein Geräusch machte, ein leerer, unbestimmbarer Ort, vielleicht ein Lebewesen, ein schwarzer Fleck in der Dunkelheit, von dem nur zu spüren war, daß er da war. Noch weiter den Weg hinunter hatte es die schwere gefährliche Gegenwart an seiner Seite gespürt, den unergründlichen Begleiter hinter dem schwarzen Vorhang der Helligkeit, und mit jedem Schritt, da es nicht näher kam, war seine Unruhe gewachsen. Es ist nichts, hatte es sich zu sagen versucht, es ist nichts, nur ein vorübergehendes Gefühl, eine Schwäche, ein Nachlassen der Aufmerksamkeit, es ist nichts, hatte es gesagt und gewußt, daß da etwas war. 

Und ich? Ich habe nach dir gesucht, in deinem Gesicht, in deinen Händen, die sehr geschäftig mit einer leeren Zigarettenschachtel spielten, in deinen Worten, die von so weit weg zu kommen schienen, daß sie hart und erfroren waren, bis sie ankamen. Und jedes Mal, wenn ich glaubte, dich gefunden zu haben, wandtest du dich ab. 

Doch das war früher einmal, bevor es zu regnen begonnen hatte, bevor das Wasser uns alle untergraben und dorthin zurückgespült hatte, wohin wir nicht zurückwollten: in die spärlich erleuchtete feuchte Höhle, die wir einmal bewohnt hatten und an deren Wänden noch die ersten Bilder eingebrannt standen, dunkel gebrannte Schemen an einem Stein, der einmal hell gewesen sein mußte, früher, bevor uns ein Lichtstrahl, ein Geräusch hinausgelockt hatte. Aber draußen hatte uns das Licht geblendet, das jemand auf uns zu richten schien, und benommen von dem Schlag ins Gesicht waren wir weitergetaumelt, zuerst den Hang hinunter, den wir vorher noch gesehen hatten - so war es uns vorgekommen -, dann weiter, auf der andern Seite wieder hinauf in Gräben gestolpert, an Bäume geprallt, eine Nacht, noch einen Tag, noch einen, Tage, Wochen, wahrscheinlich Monate, Jahre weitergerannt - und immer noch blind von dem Licht in unsern Augen hatten wir Tag für Tag darauf gewartet, daß wir uns daran gewöhnen, daß die Dunkelheit nachließe, und stets hatten wir gemeint, daß es jetzt bald geschehen würde, daß sich der Schleier schon zu lüften begannÉ und sich doch nichts änderte. Nichts änderte sich, nichts, bis wir mitten in einem belanglosen Feld von dem Regen überrascht wurden, bis die Luft mit den Kleidern an unserer Haut zu kleben begann, bis der Grund unter unseren Füßen schwammig flüchtig wurde und die Zäune, an denen wir uns entlanggetastet hatten, nachgaben und wegbrachen. Und der nächste Schritt brachte uns in den Schlamm, der danach warf uns den Dreck ins Gesicht, und als wir versuchten, die klebrigen Klumpen aus unseren Mündern zu kratzen, wünschten wir, daß das Licht nachließe, damit wir sähen, wünschten wir, daß die Dunkelheit, die unsere Augen ausbrannte, zur Sonne zurückkehrte. 

Es mag sein, daß wir alle Angst hatten vor etwas, an das wir uns nur flüchtig erinnerten. 

Es mag sein, daß es nichts gab, woran wir uns hätten erinnern können. 

Es mag auch sein, daß es weder Zäune noch Licht noch Regen gab, daß die wütenden Affen an einem Wegrand geboren wurden und dort auch verendeten, ohne daß jemand sie bemerkt hätte. 

Und es mag sein, daß niemand sich dafür interessierte, ob es so war oder nicht. 

Und? 

Und dann war uns der Weg ganz leicht gefallen, wie von selbst hatte uns Schritt für Schritt zurückgeführt, ohne daß wir etwas hätten sehen müssen, das letzte Stück den Hang hinauf hatte der Regen uns bei der Hand genommen, uns betrommelt und begleitet, bis er mit einem Schlag weg war und eine alte, vertraute Stille uns in Empfang nahm und wir plötzlich wieder sehen konnten. 

Und? 

Und dort hockten wir uns hin, sehend, wo es außer uns nichts zu sehen gab, um zu bleiben, trocken und geschützt, um dem Licht und dem Regen zu entgehen, die draußen auf uns warteten. Aber irgendwo dort draußen irrte weiter ein Wesen herum, das unser Gesicht trug und versuchte, die Wege zu gehen, die wir hatten gehen wollen. Ohne etwas zu spüren, nicht Wind und Regen, nicht die Stacheln der Hecken, stakste es mit eigentümlich starrem Blick durch den Sumpf. Und der war voll von seinesgleichen, hunderte, tausende eigentümlich starre Wesen, die zwischen den morschen Stauden herumstolperten, hängenblieben und sich befreiten, im Schlamm steckenblieben und sich auf allen vieren wieder herausschleppten, um weiterzustolpern - immer wieder und wieder und wieder, ohne je dazuzulernen, ohne innezuhalten, wieder und wieder im Dreck landeten, den der Regen dann gnädig wieder abwusch, während sie keuchend weiterhetzten. Ihre hohlen, eingefallenen Wangen. Ihre blutigen, in weichen blauschwarzen Gräbern versunkenen Augen. Ihre zerschundenen dürren blutverkrusteten Finger. 

Wir sitzen in unseren Höhlen und fragen uns, was wohl mit ihnen geschieht, vielleicht sehen wir sie sogar von ferne, sehen, wie sie einander anrempeln, weil sie mit ihren ungelenken Schritten nichts anderes können als geradeaus zu gehen, sehen auch, wie sie zappelnd versuchen, aneinander vorbeizukommen und sich dabei noch fester ineinander verkeilen, bis sie keuchend zusammen in den Morast fallen. Und seltsam: so fern sie uns sind, ist das eine, das unser Gesicht trägt, doch nahe, näher als die andern; mit ihm empfinden wir Mitleid und Erleichterung auf seinem endlosen Irren durch eine endlos bevölkerte Landschaft, seinen Weg verfolgen wir mit aller Aufmerksamkeit, deren unsere endlos müden Augen fähig sind. 

Und vielleicht möchten wir ihm helfen, möchten ihm den Weg zeigen, wenn wir, von oben, eine Lücke in der Böschung, eine Furt über den Bach gesehen haben, vielleicht möchten wir ihm etwas zurufen über die weite Ebene, wenn wir sehen, wie es auf eine versteckte Felsspalte, auf einen unter Laub verborgenen Schlammtümpel zustolpert; vielleicht rufen wir "Halt! Es geht um dein Leben, Mensch!", vielleicht springen wir auf, wollen hin, das Wesen rettenÉ und wagen uns doch nicht mehr hinaus. Vielleicht wollen wir es noch durch Winken auf uns aufmerksam machen - kurz scheint es auf unseren Ruf hin innezuhalten, es sieht sich um, als suche es etwas, dann stakst es weiter, vielleicht auf sein Verderben zu, durch die Ebene. Und wir stehen, den Rücken zur Finsternis, die wir um ein Haar wieder verlassen hätten, und starren hinaus, während von hinten, aus der Höhle heraus, das Echo immer schwächer nachhallt "É dein Leben, Mensch! É dein Leben, Mensch! É dein Leben É" 

Ich fuhr vom Bett hoch. Doch ja, sicher: das war die Haustüre gewesen. Ein leises Geräusch eigentlich, ein Klicken nur, und doch hatte ich es bis in den Schlaf hinein deutlich gehört. Ich sprang auf. Die HoseÉ Schritte im GangÉ ich stolperte. Meine Augenlider klebten noch verlassen an den Augen, und Geröll lag auf meinem Kopf. Was sollte ich sagen? Die verdammte Hose, es wäre auch ohneÉ 

"Hallo." Ein langer Blick, nicht zu hart, eher ein bißchen entrüstet. "Willst du was essen?" Eine Pause, damit sie merkte, daß es nicht wichtig war, ob sie weggewesen war (wenn ich schon vom Essen redeteÉ), daß es keinen Vorwurf und damit auch nichts zu verzeihen gab. Ein Lächeln. Komm schon, altes Mädchen! Ich bin dir wirklich nicht böse. Schaut sie her? Sieht sie das Lächeln? Sie schüttelt nur leicht den Kopf. Ihre Haare kleben lang und schwarz und schwer. Wie lange mag sie im Regen gegangen sein? Hat sie noch draußen gewartet, sich nicht hereingetraut? 

Ritual. 

Endlich die Hose zu, ich riß die Türe auf - im Gang war es still. Sie mußte in der Küche sein, vielleicht war sie schon am Kühlschrank, ausgehungert, erschöpftÉ die Haustür stand noch offen, und ein kalter Lufthauch züngelte von draußen herein, eine eisige Schlange leckte sich unter der Hose an meinem Bein hoch - habe ich da die Tür geschlossen?  

Die Küche war leer: also im Wohnzimmer. Bloß nicht hetzen, bloß nicht den Eindruck erwecken, daß ich aufgeregt bin, langsam, ruhig hinübergehen: Ach, da bist du. Und wenn ich aufgeregt war, wenn es mich im Hals würgte und meine Hände zitterten - vor Wut oder Freude? Egal. Wie würde sie kommen, die Frage hatte ich mir ja oft genug gestellt, wie würde sie sein: kalt oder warm? "Siehst du, ich habe ja gewußt, daß es etwas Besseres gibt, als bei dir zu sein, den ganzen Tag auf deine Müdigkeit, auf deine Unzufriedenheit zu warten. Da hast du mich wieder, aber glaube nicht, daß ich dir jetzt nahe bin." 

Bloß nichts anmerken lassen. Bloß nicht zeigen, wie sehr sie mir fehlte, auch wenn sie da war.  

Oder nichts, nur ein stiller langer Blick, dann kam sie auf mich zu, hielt noch einmal kurz inne, fast unmerklich, dann legte sie ihre Hand auf meine Brust, schob langsam ihren Körper an meinen und blieb so stehen, unbewegt. Sie endlich wieder umarmen können, ohne Angst, daß sie es nicht wollte. Der Geruch ihrer nassen Haare (Heublumen? Staub?), die Wärme ihrer Haut an der meinen, die in mich drang und sich ausbreitete, bis sie diesen wunden unruhigen Punkt zwischen meinen Augen erreicht hatte und ihn schwer und ruhig machte. 

Das Zimmer lag still und dunkel, auf dem Boden und dem Tisch letzte Reste von Leben, die der Abend dort liegengelassen hatte. Ich machte kein Licht. Wollte ich das Bild, das noch frisch und klar vor meinen Augen stand - das aneinandergeschmiegte Paar - nicht mit dem Bild betrügen, das mir ein genaues Hinsehen in den leeren Raum gebracht hätte? Es mag sein. Ich glaube, ich habe noch ein Rauschen gehört wie von Flügeln in der Nacht, bevor ich die Türe hinter mir schloß, leise, doch es mag nichts gewesen sein, nichts, nur ein Luftzug, der über eine Brücke irgendwoher kam, aus einem anderen Land, in dem die Bilder das Leben nicht fesselten É nichts.  

Das Auto, das mit schreiendem Motor draußen wegfuhr, hörte ich nicht, zu sehr paßte das Geräusch in diese Nacht, zu lange hatte es auf meiner kurzen Suche im Haus gefehlt: Der Schrei im Dunkeln, das Schlagen der Türen, zu oft hätten sie kommen müssen, jetzt war es zu spät. Also fuhr es nicht weg. Also war da nie ein Wagen gewesen. Vielleicht habe ich noch ein paar suchende Schritte gemacht - im Garten nachsehen? glitzernde Perlen, hinter dem fließenden Vorhang auf die Blätter gestreut? -, vielleicht habe ich jetzt die Türe geschlossen, bin dann weitergegangen - ich muß noch benommen gewesen sein: so sagt man doch, wenn der Boden, auf dem man geht, unsicher ist, wenn er genausogut nicht dasein könnte, und der einzige, der in der Lage wäre, diesen scheinbar offensichtlichen physikalischen Widerspruch zu erklären, nicht da ist und man keine Ahnung hat, wo man ihn suchen soll. 

Irgendwann stand ich wieder vor der Tür; ich muß lange dort stehengeblieben sein und sie angesehen haben, vielleicht erinnere ich mich an ein neckisches Frage- und Antwortspiel, das ich mit ihr führte: ich war nicht mehr sicher, ob sie wirklich je offen gewesen war. Der kleine Spalt Unterschied, hatte ich ihn überhaupt gesehen? Die Schlange in meinem Hosenbein? Ich sah auf das Holz der Türe, die feinen Masern, die unter dem Lack liefen, die spröden Flächen dazwischen, der matte Glanz - es war nicht von Bedeutung, ob da noch irgendwo ein Spalt Kälte offengestanden hatte, das Haus war leer, die warmen Flecken verwaist, und die Kälte hatte schon lange ihr grausames Recht durchgesetzt. Keine Helden mehr, die dem eisigen Drachen tapfer das Flammenschwert entgegengehalten hätten, keine Schatzsucher auf der Jagd nach dem stillen Glanz, der aus manchen Augenblicken leuchtet, keine Sänger, die selbst stumm noch die Räume mit dem flüssigen Feuer ihrer Musik zu füllen suchten. 

Ich sah sie vor mir, Helena, sah ihren leicht geöffneten Mund, ihre geschlossenen Augen, ich hörte ihren rauhen, heißen Atem, spürte die Wellen, mit denen er stoßweise über meine nackte Brust streichelte, und freudig begrüßte meine Hand das warme Fleisch zwischen meinen Beinen. Ihr sich windender Leib, kurze Schreie; Zungen, die eisige Schauer über die gereizte Haut jagten, auf die Mitte zu, auf den Punkt des freudigen Schmerzes, den fremden Mittelpunkt, den sie einkreisten, um sich dann hineinzustürzen. Wie tief ist das Meer, dort wo es am dunkelsten ist, wie weit kann ich dort hinunter? Es pochte, es wogte, es brannte, das Meer in meiner Hand, und je näher es dem Ufer kam, desto flüchtiger wurden die Reflexe auf seiner Oberfläche, desto unruhiger liefen die Strömungen gegeneinander ineinander, ineinander dringen, umschließen, fester, durchstoßen, der Anblick ihres gespaltenen Hügels, von der drängenden Härte auseinandergedrückt die beiden Rücken - schließlich der ganze, sich breit dahinwälzende Körper der Welle, der der Schaumkrone nachjagte, von Ruck zu Ruck mächtiger wurde, mehr und mehr Wasser von unter sich hochzog, hochpumpte, die Linien ihres Bauches, ihr steifes, hochgewölbtes Becken, das Ufer, endlich, die flachen harten Konturen eines Strandes, ihre harten zitternden Brüste, die erste Berührung mit dem knirschenden Sand, endlich, endlich fallen können nach diesem irrsinnigen LaufÉ der SturzÉ der SturzÉ Stoß um Stoß im Sand verlaufende Luftblasen, endlich, von Mal zu Mal weniger, dann von Mal zu Mal weiter draußen, es ist der Rückzug des Meeres in Meer. Das Land bleibt naß, doch unberührt zurück, nur irgendwo, ganz vorne, wo die erste Welle brach, trotzt noch eine Blase der harten Luft, bis das Licht des Mondes gnädig auch das Stückchen Nacht erfüllt, das sie platzend aushaucht. 

Ich glaube, der Schlaf hat mich dann vor der Einsamkeit bewahrt. 
 
 
 
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